Die verbotenen Kinder der Saisonniers

Der Schötzer Benyamin Khan hat seine Masterarbeit über die unsichtbaren Kinder von Arbeitsmigrantinnen und -migranten zwischen 1950 und 1970 geschrieben. Er beleuchtet ein Stück Schweizer Geschichte, das die Forschung bisher stiefmütterlich behandelt hat. Das Schweizerische Sozialarchiv zeichnet seine Arbeit aus. 

Benyamin Khan. Foto zvg
Norbert Bossart

Catia war tagelang allein, im kleinen Erkerzimmer eines gutbürgerlichen Hauses in Zürich. Die Elfjährige besuchte keine Schule, hatte kaum Kontakt zu anderen Kindern. Sie war im Jahr 1962 mit ihren Eltern aus Italien in die Schweiz gekommen. Vater Danilo und Mutter Maria hatten eine Anstellung als Saisonniers. Das Bundesgesetz verbot den Familiennachzug. Dennoch brachten sie ihre Tochter in die Schweiz. Sie versuchten für sie eine langfristige Aufenthaltsbewilligung zu bekommen. Doch sie scheiterten. Die Behörden gewährten Catia lediglich einen Besuchsaufenthalt von sechs Monaten. War diese Frist verstrichen, musste Catia ausreisen. Das tat sie offiziell. Doch sie kehrte zurück, illegal im Kofferraum des Wagens ihres Vaters.


Die 10 000 bis 30 000 Kinder im Verborgenen

Catia ist kein Einzelfall. In der Blütezeit der Arbeitsmigration rund um die 1960er- und 1970er-Jahre lebten in der Schweiz zwischen 10 000 bis 30 000 Kinder im Verborgenen. Die Zahlen variieren je nach Quelle. Über die verbotenen Mädchen und Knaben aus Italien, Spanien, Portugal, Türkei oder Ex-Jugoslawien ist bis heute wenig bekannt. «Das Thema ist nicht auf dem Radar der breiten Öffentlichkeit.» Dies sei mit ein Grund, warum er sich entschieden habe, dieses Stück Schweizer Geschichte im Rahmen seiner Masterarbeit aufzuarbeiten, sagt der gebürtige Schötzer Benyamin Khan. «Mit meinen Erkenntnissen kann ich einen Beitrag zur Diskussion rund um dieses Thema leisten.»
 

Die doppelte Unsichtbarkeit

Bisher gibt es keine wissenschaftliche Aufarbeitung. Die Suche nach Informationen führte Benyamin Khan ins Staatsarchiv des Kantons Bern. Die erste Erkenntnis war ernüchternd. Es fehlen die Akten der kantonalen Fremdenpolizei. «Ich fand weder Personaldossiers noch andere Unterlagen. Und das, obwohl die Fremdenpolizei damals eine staatstragende Funktion hatte.» Die schlechte Aktenlage habe ihn erstaunt und auch stutzig gemacht. «Wie kann das sein?» Antworten darauf bekam Benyamin Khan keine. 

Er weitete seine Forschungsperspektive aus und fragte in anderen Kantonen nach. Die Aktenlage sei auch in Luzern, Aargau oder Solothurn nur wenig besser. Personaldossiers seien zu einem grossen Teil vernichtet und nur vereinzelt abgelegt worden. «Es gibt kaum Informationen zu den versteckten Kindern von damals», sagt der 29-Jährige. «Sie waren nicht nur im alltäglichen Leben inexistent, sondern hinterliessen auch in den Archiven keine Spuren.» Benyamin Khan spricht von einer «doppelten Unsichtbarkeit».

Der Schötzer suchte für seine Arbeit nach neuen Quellen. Wichtige Informationen lieferte ihm unter anderem die Selbsthilfeorganisation Federazione Colonie Libere Italiane in Svizzera, diese vermittelte zwischen Arbeitsmigranten und den Schweizer Behörden. Die italienischen Gastarbeiter vertrauten sich den Verantwortlichen an. Die entsprechenden Dossiers sind im Schweizerischen Sozialarchiv abgelegt. Hier stiess Benyamin Khan auf Geschichten von versteckten Kindern. Er erfuhr unter anderem von der Ausweisung des zweieinhalb Monate alten Säuglings Sergio im Juli 1969. Seine Mutter, eine Italienerin, lebte mit ihrem Partner in Genf. Sie waren nicht verheiratet. Dieser Umstand führte zum Ausweisungsentscheid. Auf öffentlichen Druck hin widerrief die Genfer Behörde schliesslich ihren Beschluss.

Weiter schreibt Benyamin Khan in seiner Masterarbeit über das Schicksal von Andrea Messina und seiner Familie. Er wurde 1962 in Sizilien geboren und kam als Zweijähriger illegal in die Schweiz. Sein Vater hatte hier eine Stelle. Die fünfköpfige Familie lebte in einer kleinen Wohnung in Basel. Andrea Messina und seine Mutter Maria erzählten Benyamin Khan in Interviews von der Zeit in der Illegalität, sie berichteten unter anderem vom Fremdsein, den engen Wohnverhältnissen und den unangemeldeten Kontrollen der Behörden.

Italienische Arbeiterinnen bei der Einreise in Chiasso um 1950. Foto zvg

Die Betroffenen

Es sei nicht einfach gewesen, Betroffene zu finden, die in der Öffentlichkeit über ihre Erfahrungen sprechen, sagt Benyamin Khan. In der Tendenz zeige sich «eine Kultur des Schweigens». Viele haben das Kapitel für sich abgehakt. «Sie sind heute nicht mehr die ‹Tschingge› von damals. Die Italienerinnen und Italiener sind in der Schweiz gut integriert.» Das Thema scheine weit weg. «Und doch begleiten die Traumata die Betroffenen bis heute.» Darüber zu sprechen sei für viele schmerzhaft. «Die Auswirkungen zogen sich in die intimsten Beziehungen zwischen Eltern und Kindern.» Die Erfahrungen des Versteckens und des Nichtseindürfens zeichne lebenslang.

Die Behörden

Die Geschichten von Betroffenen sind Teil der Masterarbeit. Der Hauptfokus liegt aber auf der Rolle der Behörden. «Diese gewichteten damals die wirtschaftlichen Interessen höher als das Wohl der Migrantenfamilien.» Die ausländischen Arbeitskräfte sollten flexibel verfügbar sein ohne sich permanent bei uns niederzulassen. «Die Angst vor Überfremdung war gross.» Die Schweiz setzte auf das Gastarbeitermodell, der Familiennachzug war Saisonangestellten verboten. «Wollte die Familie zusammenbleiben, blieb oft nur die illegale Migration.» Die Verantwortlichen seien mehrfach auf die humanitären Missstände aufmerksam gemacht worden. Benyamin Khan beschreibt etwa den Brief eines Waadtländer Nationalrats Anfang der 1970er-Jahre, in dem er den Bundesrat auf die Problematik hinwies. «Dieser unterband eine parlamentarische Debatte. Er versuchte dem Thema möglichst keine öffentliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.» Die Bundesbehörde habe die Verantwortung von sich gewiesen. Sie argumentierte, die Eltern würden sich freiwillig über das geltende Recht hinwegsetzen und seien deshalb selbst schuld am Leid ihrer Kinder.
 

Das Forschungsprojekt

Vor zwei Jahren schrieb Paola de Martin, ein selbst vormals verstecktes Kind, einen offenen Brief an Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Sie machte auf die Missstände von damals aufmerksam und forderte unter anderem eine politisch angestossene Aufarbeitung der Geschehnisse. In ihrer Antwort zeigte die Bundesrätin Verständnis für das Anliegen. Sie zeigte allerdings auf, dass dafür das Parlament einen entsprechenden Auftrag erteilen müsste und verwies auf die gesellschaftliche Aufarbeitung. «In diesem Bereich tut sich etwas», sagt Benyamin Khan. «Betroffene tauschen sich aus und schliessen sich zusammen.» Dieses aktivistische Engagement sei wichtig.  «Ohne eine gemeinsame Sprache bleibe die schmerzhaften Erfahrungen von Arbeitsmigrantinnen und -migranten da, wo sie gemacht wurden, im kleinen dunklen Hinterzimmer.» Mit seiner Arbeit legte Benyamin Khan eine Basis für die wissenschaftliche Aufarbeitung dieses Kapitels der Schweizer Migrationsgeschichte. Der Schweizerische Nationalfonds bewilligte ein entsprechendes Forschungsprojekt und schaffte zwei Doktorandenstellen. Das freue ihn sehr. Er habe versucht mit seiner Masterarbeit die Not der Betroffenen zu benennen. «Ich hoffe damit, zu einer offenen und ehrlichen Sprache beizutragen», schreibt Benyamin Khan als Schlusssatz seiner 150-seitigen Arbeit. Das ist ihm gelungen. Das unterstreicht neben dem Forschungsprojekt auch die Auszeichnung des Schweizerischen Sozialarchivs. Benyamin Khan gewinnt den Jahrespreis. «Das ist eine Anerkennung für meine Arbeit, aber vor allem fürs Thema und für alle Betroffenen, die dafür kämpfen, ernst genommen und gehört zu werden.»

Benyamin Khan (29) ist in Schötz aufgewachsen. Er schloss sein Geschichts- und Philosophiestudium an der Universität Bern im Herbst 2019 ab. 2015/2016 absolvierte er beim «Willisauer Bote» ein Praktikum und arbeitete als freier Mitarbeiter. Khan lebt in Zürich.

Irene Zemp-Bisang

Ausgezeichnete Arbeit

Der Jahrespreis des Schweizerischen Sozialarchivs zeichnet hervorragende Abschlussarbeiten aus, die auf Material aus dem Sozialarchiv beruhen. Die Arbeit von Benyamin Khan wertet unter anderem Dokumente aus dem im Sozialarchiv gelagerten Archiv der «Federazione Colonie Libere Italiane in Svizzera» aus. «Er widmet sich einem Thema, das von der bisherigen Forschung ziemlich stiefmütterlich behandelt worden ist», sagt der Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs, Christian Koller. «Benyamin Khan hat es verstanden, die verstreuten Quellen zum Thema aufzuspüren und zusammenzufügen, sie analytisch zu durchdringen und zu interessanten Ergebnissen zu gelangen.» Die Arbeit sei gut strukturiert und bewege sich auch sprachlich auf einem hohen Niveau. «Sie wurde an der Uni Bern zu Recht mit der Höchstnote bewertet und verdient den Gewinn unseres diesjährigen Jahrespreises.» Dieser ist mit 1000 Franken dotiert. Das Schweizerische Sozialarchiv verleiht diese Anerkennung zum dritten Mal.

Das Sozialarchiv ist die -führende Forschungsinfrastruktureinrichtung für gesellschaftlichen Wandel und soziale Bewegungen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Es umfasst ein Spezial-archiv, eine wissenschaftliche Spezialbibliothek und eine Dokumentation. ibs

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