Nachruf

19. August 2019

Urs Arnold

Willisau

Es klingt vielleicht ein wenig vermessen, aber immer wieder vernimmt man aus der Presse, dass bekannte Künstler freiwillig aus dem Leben geschieden sind. So zum Beispiel Avicii im April 2018. Der Star-DJ aus Schweden hat im Oman seinem jungen Leben wohl ein Ende gesetzt. Nicht, dass wir unseren Bruder Urs, auch bekannt als M.C. Örtel, auf die gleiche Erfolgsstufe stellen möchten wie Avicii. Aber es zeigt uns einfach, dass man nicht automatisch glücklich ist, auch wenn man auf den grössten Bühnen der Welt auftreten darf und mit Ruhm überschüttet wird. Niemand ist gegen eine psychische Erkrankung gefeit. M.C. Örtels Bühne war das Luzerner Hinterland, war Willisau. Lange kam er hier trotz seiner Krankheit gut zurecht. Bis sich im Sommer 2017 anstatt der manischen zum ersten Mal die depressive Seite seiner Krankheit gezeigt hat. Bis zu diesem Zeitpunkt kannte unser Bruder diese Seite selber nicht. Die Depression hatte Urs schliesslich so fest im Griff, dass er sich am Montag, 13. August 2018, dazu entschied, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Aufgewachsen ist Urs zusammen mit seinen vier älteren Geschwistern, dem gleichaltrigen Pflegekind und später noch mit dem kleinen Bruder im Sternenmattring. Besonders mit seinem älteren Bruder Eda hat er viel unternommen. So haben sie mit Kameraden oft Fussball gespielt auf Schweglers Garagenplatz. Jedes Garagentor war ein persönliches Tor und jeder spielte gegen jeden. Örtel war ein gewiefter Taktiker, der gerne gewonnen hat. Aber auf jedes grosse Fussballfest folgten die Reklamationen der Garagenbenutzer, dass durch die Knallerei wieder alle Schlösser kaputtgegangen seien… Im Keller wurde nächtelang «töggelet». Von der Tante von der «Bierhalle» bekamen wir einen Töggelikasten – zum Aufklappen, aber ohne Beine. So haben Urs und Eda zig Stunden kniend oder sitzend im Keller verbracht. In der Vorweihnachtszeit freuten sich Urs und Eda jeweils besonders aufs «Geissle­chlöpfe». Jahr für Jahr gingen sie in den Laden der Seilerei Herzog, um sich eine grössere Geissel und vor allem den richtigen Zwick zu kaufen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit der Koordination sind sie mit der Zeit zu veritablen «Geisslechlöpfer» herangereift. Am liebsten haben sie aber zu dritt zusammen mit Betzgi Warth geklöpft. Zum Samichlauseinzug kam meistens Onkel Fredy aus Winterthur heim nach Willisau, um mit seinen alten Kameraden die Geissel zu schwingen. Und Urs und Eda waren dann schampar stolz, wenn Onkel Fredy ihnen seine grosse Geissel für ein paar Versuche überlassen hat. Urs und Eda haben auch gerne ihre eigene Steinschleuder gebastelt. Eine passende Astgabel in der richtigen Grösse musste oben in der Rüti gefunden werden. Die musste dann sauber abgeschnitten und der Griff mit einem geschmeidigen Stück Hasenfell überzogen werden. Die richtigen Speckgummis von Kreiliger und ein Stück Leder zur Aufnahme der Munition haben die «Waffe» unserer Brüder vollendet. So zogen sie los und übten sich in wilden Schiessübungen. Unzählige Strassenlampen im Raum Sternenmatt mussten so ihr Leuchten unfreiwillig aufgeben. Am Sonntagabend erledigte unser Vater jeweils seine Büroarbeit. Licht bekam er indirekt von der Strassenlampe beim Nachbarn. Manchmal hörten wir ihn dann brummeln, dass die Lampe schon wieder kaputt sei. Wenn Babi gewusst hätte… Oder die gute Frau Isenschmid nebenan. Sie hatte die Gewohnheit, ihren Gemüsegarten durch in den Boden gesteckte Glasflaschen gegen Schnecken zu schützen. Örtel und Eda haben in diesen Flaschen jedoch ideale Zielscheiben für ihre Schiesskünste gesehen. So haben sie Flasche um Flasche zerschossen. Der Preis dafür war aber nicht ein niedliches Stofftier oder eine Rose wie an der Kilbi. Nein, die beiden mussten ganze Nachmittage lang Scherben zusammenlesen und neue Flaschen in den Boden drücken. Aber am heftigsten waren die Bandenkämpfe gegen die «Blöckler». Die älteren Arnold-Brüder, verstärkt mit Schwester Rita, Susi Büchler Betzgi Warth, zogen mit der Schleuder und mit Eicheln als Munition in den Kampf. Ohne Helm und ohne Schutzbrille. Ein Wunder, dass nie jemand verletzt wurde dabei. Viel Zeit hat Urs auch mit seinem Schulfreund Fabian Fässler verbracht. Wir erinnern uns besonders daran, dass die beiden zig Varianten von Papierfliegern gefaltet haben. Diese Flieger mussten dann im Weitfliegen getestet werden. Aus dem Zimmer im Obergeschoss gestartet, haben die Flieger dann schon bald einmal den ganzen Rasen bedeckt.

Als der kleine Bruder Adrian – Urs nannte ihn zu Lebzeiten Bänz – auch endlich grösser wurde und man mit ihm spielen konnte, da hat Urs immer wieder Spiele erfunden. Zum Beispiel gab es diverse Varianten vom «Töggele» oder vom «Tippkick». Oder auch die Philipps G7000, eine der ersten Videospielkonsolen, haben sie zusammen entdeckt. Auch die Freude an der Musik bekam der kleine Bruder durch Urs vermittelt. So haben sie zusammen die erste Kassette aufgenommen. Ob sie von Maxell oder von BASF war, das wissen wir nicht mehr. Dafür aber die ersten drei Lieder: «Sugar, Sugar» von The Archies, gefolgt von «I'm Still Loving You» von den Scorpions und «Lady In Black» von Uriah Heep. Aufgenommen haben wir dazumal vom Plattenspieler auf Tonband, es musste also mucksmäuschenstill sein im Zimmer. Musik und Spiel haben sich auch vermischt mit der Zeit. Als mit MTV der erste Musiksender aufkam und man plötzlich Musikvideos anschauen konnte, da machten die Brüder einen Wettbewerb daraus, wer das Lied schneller erkennen kann. Und ja, Örtel hat gerne gewonnen. Eine Niederlage gegen den kleinen Bruder kam gar nicht gut rein. Und mit Urs zusammen durfte Adrian seinerzeit auch das legendäre Thriller-Video von Michael Jackson anschauen. Dabei hatte klein Bänz doch sonst schon Schiss vor Werwölfen und Zombies, die fast so schlimm aussahen wie die Morlocks aus dem Film «Die Zeitmaschine».

Trotz dem Garagenfussball fand Urs nie den Weg in den FC. Statt mit den Füssen spielte er noch lieber mit den Händen. So war er lange zusammen mit Tschüggu Stauffer im Tischtennis­club. Trainiert wurden sie von Sepp Egger. Ach, wie oft hat Örtel beim Spiel in der Badi des Trainers «Dörezieh! Dörezieh!» mit einem breiten Grinsen am Tisch nachgemacht. Mit dem Bau der Tennishalle hat Örtel Squash entdeckt. Schon bald trat er dem Squash Club Quattro bei. Dort war er lange Mitglied und er hat auch mit dem kleinen Gummiball eine feine Klinge bewiesen. In seiner letzten Wohnung zeugten diverse Tischtennis- und Squashschläger von der grossen Verbundenheit zu seinen Lieblingsvereinen.

Urs war ein intelligenter und zielstrebiger Schüler. Vielleicht sogar zu zielstrebig. Gross lernen oder Hausaufgaben machen, sah man ihn nie. Trotzdem brachte er immer Bestnoten nach Hause. Wenn es dann aber mal nicht eine Sechs war, dann wurde Urs zornig oder er war traurig deswegen. Nach der Schulzeit durfte Urs im Büro Amrein & Rüppel die Lehre als Hochbauzeichner absolvieren. Als Bruder Eda, er hatte zuvor ebenfalls die Lehre zum Hochbauzeichner gemacht, Urs Testfragen zur Prüfungsvorbereitung gab, da offenbarte sich ihm zum ersten Mal die Krankheit unseres Bruders. Örtel konnte keine Antwort ankreuzen, wenn die nicht haargenau wie im Lehrbuch wiedergegeben wurde. Stundenlang sass Urs vor den Aufgaben und verzweifelte daran, dass keine Antwort seinen Vorstellungen entsprach. Eda wollte helfen – aber erfolglos. Urs war wie gefangen in sich. In seiner schlechten psychischen Verfassung konnte er dazumal auch nicht an der LAP teilnehmen. Via Attest durfte Urs das Eidgenössische Fähigkeitszeugnis aber trotzdem entgegennehmen. Seine Intelligenz zeigte sich auch wieder, als er ohne Vorbereitung die Aufnahmeprüfung ans Technikum in Horw für die Fachrichtung Architektur schaffte. Urs konnte starten, musste aber im Verlauf des zweiten  Semesters wieder aufgeben. Von da an hat ihn ein Leben zwischen Normalität und der Klinik in St. Urban ständig begleitet. Später durfte Urs noch seine Zusatzlehre als Polygraf bei der Agentur Frontal in Willisau abschliessen. Danach war er viele Jahre mit seiner Einzelfirma UA AGD unterwegs. Dank der Unterstützung von Familie und Freunden sowie einer kleinen treuen Stammkundschaft konnte sich Urs über Wasser halten und sich die Tage nach seinem Gusto einteilen. Viele, die ihn kannten, haben ihn bestimmt noch vor Augen, wie er beim Café Amrein auf der Terrasse sass. Samstags traf er sich dort oft mit seinen Kollegen vom «Haubi-Eis-Kafi». Sein Grafiker-Know-how durfte Urs beim Verein Rathausbühne einbringen. Auch dieser Verein war ein wichtiger Pfeiler im Leben unseres Bruders. Und das Aushelfen in der Cinebar bei Beat Bossert war für ihn eine willkommene Abwechslung. Daneben umrahmte er als M.C. Örtel manch eine Feier als DJ mit dem passenden Sound.

Wie eingangs erwähnt, im Sommer 2017 stürzte Urs' Kartenhaus plötzlich in sich zusammen. Nach vielen guten Jahren fiel er in eine tiefe Depression. Trotz intensiven Bemühungen, trotz stetem Dasein für ihn, trotz Wohnungswechseln – Urs kam einfach nicht mehr aus diesem Loch heraus. Eine extreme Sprunghaftigkeit begleitete ihn zuletzt. Eine neue Wohnung musste es sein, dann wollte er ins betreute Wohnen, wenig später doch wieder zurück in die alte Wohnung, kurz darauf war das Heim Breiten die ideale Lösung, nachher wieder der Wunsch vom Schnuppern im Kartenatelier, dann doch ins Traversa nach Sursee, nach einem Tag abbrechen dort, unbedingt Austreten aus der Klinik, spätestens am vierten Tag wieder freiwillig zurück in die Klinik – das letzte Jahr mit unserem Bruder war für uns Angehörige äusserst intensiv. Und trotz aller Anstrengungen endete es leider darin, dass Urs am 13. August 2018 aus einem Impuls heraus den Freitod wählte.

Zum Schluss kommen wir nochmal zurück auf Avicii. Im Song «Hey Brother» gibt es die Passage «Know the water's sweet but blood is thicker». Wasser ist süss, aber Blut ist dicker. Lieber Bruder, wir werden für immer mit dir verbunden sein. Besonders auch dein Göttimeitschi Jaël, dein «Buzli», auf sie warst du immer rüüdig stolz. Wir wünschen dir, dass du deine Ruhe und deinen Frieden endlich gefunden hast. Bis dann dann.

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