Nachruf

19. August 2019

Josy Hodel-Heller

Vorberg, Willisau

Wetter wie heute, das hätte dem Grosi gefallen. Sonnig und warm. Ein Tag zum Rausgehen. Grosi war immer gerne draussen, am liebsten in der Höhe, auf einem Hügel, wo sie in die Weite blicken konnte. Das kommt nicht von ungefähr, Grosi ist schon auf einem Hügel zur Welt gekommen. Im Oberberg erblickte sie am 15. November 1927 als Maria Josefina Heller das Licht der Welt. Sie wurde fortan von allen Josy genannt. Im Oberberg hat sie ihre Kindheit verbracht, zusammen mit zwei Schwestern und vier Brüdern. Sie hat in der Schülen die Schule besucht und nach der Schulzeit daheim auf dem elterlichen Hof geholfen. Grosi hat im Restaurant Balm in Meggen in der Küche und später bei Onkel Alfred Scherrer in Buttisholz als Pfarrköchin gearbeitet. Die Möglichkeit, einen Beruf zu erlernen, hat mein Grosi nie gehabt. Etwas, womit sie haderte – sie hat es später noch oft erwähnt. Überhaupt war es eine andere Zeit. Bis in meine Teenagerjahre hab ich Grosi zum Beispiel nur im Rock gekannt. Sommer wie Winter, sie hat nie etwas anderes getragen, am Werktag jeweils mit einer Scheube drüber. Ich kann mich gut erinnern, als sie dann das erste Mal in Hosen vor mir stand – ich war begeistert. Was für ein Quantensprung! Und meinem Grosi hat das auch gefallen – ich habe sie von diesem Tag an fast nie mehr im Rock gesehen. 

Ob Rock oder Hose – Grosi war immer sehr gepflegt und hat grossen Wert auf die Aalegi gelegt, auch bei uns! Bis ins hohe Alter hat sie unsere Blusenkragen gerichtet oder herauslampende Hömmlistöcke reklamiert. 

In den über 90 Jahren, die Grosi auf dieser Welt war, hat sie viele Veränderungen und technische Fortschritte miterlebt. Den Umstieg von Ross und Wagen auf den Traktor, von der Sägesse zur Mähmaschine, von Tristen und Garben zum Mähdrescher, die Einführung von Telefon, Fernseher und so weiter. Mit dem Handy ist sie nie richtig warm geworden, mit dem Computer und dem Internet konnte sie gar nichts anfangen. Aber den Traktor, den wusste sie zu schätzen. 

Zur Zeit, als sie in Buttisholz arbeitete, lernte sie den Grossvati kennen, offenbar an einer Springkonkurrenz. Wie das ganz genau gegangen ist, weiss ich nicht – ich war ja nicht dabei. 1950 haben sie geheiratet und mein Grosi zügelte mit 23 vom einen Hügel, Oberberg, auf den anderen Hügel: Vorberg. So konnte sie stets heimschauen – und in die Weite, was ihr immer wichtig war. Natürlich hat es nicht nur Vorteile, so auf dem Hoger zu wohnen. Ich weiss das. Ich wohne ja selber auf diesem Hoger. Den Weg vom Vorberg nach Willisau, er führte in den Fünfzigern noch über eine Grienstrasse, hat Grosi zu Fuss oder mit Ross und Wagen gemacht. Als sie sich dann den ersten Traktor angeschafft haben, war Grosi auch öppe mal mit dem Bührer einkaufen – für ihre Familie, die stetig wuchs. 

Sieben Kinder hat Grosi auf die Welt gebracht: Sepp, Ruth, Lisebeth, Wendi, Heiri, Ursula und Barbara. Zudem hatten sie im Vorberg auch Ferienkinder. Kinder aus Grossfamilien, aus dem Wallis zum Beispiel, die zu Hause «ab der Kost» mussten. Die haben ihre Sommer im Vorberg verbracht und es sind Freundschaften daraus gewachsen, die bis heute Bestand haben. 

Ungefähr zur Geburt des jüngsten Kindes hat sich die Familie bei Emil, dem Bruder von Grosi, das erste Auto gekauft. Einen Vauxhall. Grosi ist hernach grad selber mit dem Auto in die Fahrschule gefahren und hat nach der Prüfung die neue Freiheit genossen. Als die Kinder bereits mehrheitlich aus dem Haus waren, ist sie am Sonntig mit dem Grossvati über Land gefahren. Oder in die Ferien. Sie hat Krankenbesuche gemacht, ging Jassen, Turnen, zur Kirche. Weil man mit dem Vauxhall viel schneller ist als mit Ross und Wagen, blieb jeweils nach der Kirche noch Zeit, um zusammen mit ihren Frauen im Café Amrein einzukehren. Es wird erzählt, es sei amigs nicht bei einem Meitschibein geblieben, dass sie geschnouset hätten. Danach tifig heim. Grosi war immer sehr zügig unterwegs mit dem Auto – so wie sie überhaupt zügig unterwegs war im Leben. Es gab ja auch viel Arbeit. Wenn ich mir nur schon den Wäscheberg vorstelle, den es von sieben Kindern gibt, und die Waschmaschine kam erst 1964 – als ein Bad angebaut wurde. 

1976 hat man im Vorberg dann eine zweite Wohnung ausgebaut für den ältesten Sohn Sepp und seine Frau Heidi. Bald schon kamen die ersten Grosskinder – ich und meine beiden Geschwister zum Beispiel. So wurde es nie langweilig – es gab immer etwas zu machen, Chriesi und Lindebluescht abläse, Äpfel und Birnen auflesen, Kühe auslassen, Schweine, Hühner und Katzen füttern, Kühe wieder eintun, kochen, backen – an der Weihnacht Chräbali, an der Kilbi Chnöiblätze und natürlich war da auch noch der grosse Garten. Zusammen mit meinem Mami Heidi hat Grosi viel Zeit im Garten verbracht. Die zwei Frauen haben Gemüsevorräte für eine ganze Armee produziert. Sie haben Konfi eingekocht, Tomaten, Randen und Rüebli eingeweckt, Härdöpfu eingepudert und Blumenkohl eingefroren – in rauen Mengen. Wir wären jederzeit auf eine Hungersnot vorbereitet gewesen – so kam es mir zumindest vor. Ganze Nachmittage lang war Grosi mit Ausböhnelen beschäftigt, und wir Grosskinder halfen mit – allerdings nicht freiwillig. 

Mit ihrem Citroën – von den Grosskindern Zitronenexpress genannt – ging sie bei ihren erwachsenen Kindern im Haushalt helfen: glätten, Kinder hüten, Wäsche waschen. Sie half dort, wo man sie brauchte. 15 Grosskinder und ebenso viele Urgrosskinder sinds mittlerweile, das 16. Urgrosskind ist unterwegs. Grosi kannte alle Geburtstage auswendig und war auch sonst parat im Kopf. Ja, sie wusste nicht nur beim Jassen, was gerade gegangen war … Hofnamen und Abstammungen zur näheren und entfernteren Verwandtschaft hatte sie im Griff, Jahrzahlen wie auch Namen – sie wusste sie alle. Ich fand das immer sehr beeindruckend, heute, da man sich nichts mehr merkt, sondern alles nur noch googelt. 

Im Jahr 2000 feierten Grosi und Grossvati die goldene Hochzeit, zwei Jahre später starb Grossvati und Grosi war fortan allein in der Wohnung im Vorberg. Aber sie nahm weiterhin rege am Familienleben teil, war mit dem Zitronenexpress unterwegs und an unzähligen Familienfesten, Geburtstagsfeiern, Hochzeiten und Taufen mit dabei, und da war sie immer sehr ausdauernd. Grosi war halt fit. Sie hat diverse Ausdauersportarten betrieben: Spazieren, Jäten, Hausplatz wischen, Schneeschaufeln und natürlich Lismen. Die Söhne, die Schwiegersöhne und später auch die Enkel und Schwiegerenkel haben vom Grosi zu Weihnachten Socken bekommen. Mit wachsender Familie gab es bald so viele Socken zu lismen, dass Grosi schon am Silvester wieder für die nächste Weihnacht loslegte. Ich habe gerechnet und denke, dass es, alles in allem, weit über tausend Paar Wollsocken gewesen sein müssen. Sie wurden immer pünktlich zu Weihnachten fertig. Grosi war äbe auch zügig im Lismen. 

Wenn man vom Vorberg auf dem Höhenweg weiterläuft, kommt man an ein sehr, sehr langes Bänkli. Das war nicht immer so lang, aber als die umliegenden Familien immer grösser wurden, hat man die Bank verlängert, denn immer am Sonntagnachmittag pilgerte man dorthin und betete den Rosenkranz. Sehr zum Leidwesen der Jugend. Im Alter spazierte Grosi wieder jeden Tag zum diesem Bänkli, bei jedem Wetter. Manchmal allein, mit dem Hund, manchmal ging ein Büsi mit, später wurde Grosi von ihrer kleinen Urgrosstochter Lena begleitet. Sie hatte auf diesem täglichen Spaziergang viele schöne Begegnungen und manchen kurzen Schwatz. Das hat sie immer sehr genossen. 

Es kam irgendwann der Tag, an dem Grosi das geliebte Autofahren aufgeben musste. Bald darauf hat sie sich bei einem Sturz in den Ferien den Oberschenkelhals gebrochen, was dann einen weiteren Umzug mit sich brachte. Grosi zog vom Hügel Vorberg auf den Hügel Waldrueh. Auch dort konnte sie wieder in die Weite schauen.  

Doch wir merkten, wie Grosi immer öfter ein Gnosch im Kopf hatte. Erst waren gewisse Geburtstage nicht mehr da. Später verschwanden Jahrzahlen. Auch Namen und die Gesichter dazu fand Grosi nicht mehr in ihrem Kopf. Jassen ging nicht mehr wie früher und irgendwann konnte sie auch nicht mehr lismen. Es folgten die letzten, beschwerlichen Wochen. Am 26. Mai ist Grosi friedlich eingeschlafen. Wir sind dankbar für die schöne, gemeinsame Zeit und wir wünschen ihr eine gute Reise.