Nachruf

19. Januar 2017

Adolf Schär-Betschart

Willisau

Es ist nicht einfach, Worte zu finden, die deinem Leben gerecht werden würden. Deshalb entschuldige ich mich für jenes, das hier ungeschrieben bleibt.
Egal wo auf dieser Welt ich war, ich wusste immer, wenn ich dich sehe, dann bin ich zu Hause. Meli meinte sogar, als wir noch in Zürich wohnten, dass Willisau nur aus eurem Haus bestünde. Irgendwann hat sie dann bemerkt, dass dem nicht so ist. Aber Willisau wird trotzdem für alle deine Enkelkinder immer das Zuhause an der Bahnhofstrasse 16 bleiben. Du warst der Mittelpunkt unserer Willisau-Welt, der Beschützer und Hahn im Korb. Du warst nicht nur unser Grosspi, sondern der Grosspi der ganzen Bahnhofstrasse.
Wenn ich an dich denke, dann sehe ich immer, wie du da sitzt, meistens im Wintergarten, mit den Händen auf deinem Bauch ruhend und «Dümli-drehend». Das klingt jetzt vielleicht seltsam, aber ich glaube, dass du tatsächlich der einzige Mensch warst, der Daumen gedreht hat. Es war ein sehr beruhigendes Gefühl, das Gefühl, zu Hause angekommen zu sein und dass alles in Ordnung ist. Du konntest mit den Ohren wackeln, ohne das Gesicht zu bewegen und du warst nicht nur unser Grillmeister, sondern auch unser Christkindli, das wissen wir heute.
Obwohl wir Grosskinder erst spät in dein Leben kamen, wussten wir durch eure Erzählungen bestens Bescheid über die Zeit vor unserer Existenz. Zum Beispiel, dass du nicht nur ein sehr guter Turner, sondern auch ein Schönling warst. Von all den vielen Geschichten, die du mir erzählt hast, ist mir immer jene geblieben, dass du als 4-Jähriger in das wohl einzige Auto in ganz Willisau gerannt bist und dir dabei beide Beine gebrochen hast.
Irgendwann hast du dann Grossmi kennengelernt, wobei du dich stets als vorbildlicher Gentleman zu erkennen gabst. Es war Grossmi, die dich zum Tanz aufgefordert hat. Weil sie damals in Willisau niemanden kannte, entschied sie sich, an den damals legendären Turnerball zu gehen und den vordersten auf der Bank sitzenden jungen Herrn zum Tanz einzuladen. Das warst du. Im Jahr 1960 habt ihr dann geheiratet, denn mein Götti war bereits unterwegs. Eure Hochzeitsfeier fand im alten Bahnhöfli statt und als dieses vor ein paar Jahren abgerissen wurde, hast du oft wehmütig danebengestanden. Menschen scheinen zu vergessen, dass sie nicht nur die Häuser, sondern mit ihnen auch die Erinnerungen abreissen.
Ein ähnliches Schicksal galt auch deinem Haus, der ehemaligen Villa Anna, bevor es dein Haus wurde. Du wolltest dieses Haus bereits als Kind, und nach jahrelanger, harter Arbeit als Sattler/Tapezierer konntest du es dir dann auch leisten. Zu diesem Zeitpunkt war das Haus eine reine Bruchbude, doch in nur drei Monaten hast du zusammen mit Grossmi und euren wundervollen vier Kindern dieses Haus in eine tatsächliche Villa verwandelt. Heute erfreut der Glyzinienduft im Frühling all die in Willisau ankommenden Gäste.
Wir Enkelkinder sind uns bewusst, dass du uns ganz viel erlaubt hast. Wir haben beispielsweise ein Seil im Treppenhaus montiert und Tarzan gespielt. Das war eigentlich gegen deine Prinzipien, aber wenn ich mich recht erinnere, warst du es, der den Knopf richtig befestigt hat. Eines Tages entdeckten wir dann deine Fahnenstange in deinem Estrich und von diesem Moment an war sie unser Reck. Wir durften das, unsere Eltern hätten diese Erlaubnis nie erhalten. Ich weiss, wie sehr du über deinen Schatten springen musstest, um uns alle diese Kinderwünsche zu erlauben.
Du hast uns immer und überall hingefahren, warst da, als wir auf die Welt kamen oder wenn wir Geburtstag oder Abschluss feierten. Und du hast so unglaublich gut gebastelt, in letzter Minute Meisterwerke vollbracht, wenn wir noch dringend ein Muttertagsgeschenk brauchten. Als wir ins Jugendalter kamen, haben wir geglaubt, dass wir jetzt einen Jugendraum brauchen. Du warst dann derjenige, der mit uns wochenlang die Wände getäfert hat. Es tut mir leid, dass wir den Raum dann doch nicht so oft benutzt haben, aber wir wissen nun zumindest, wie man mit Holz und Nägeln umgeht.
Du hast uns all die Dinge gelehrt, die der Mann im Haus erledigen sollte, du hast uns gelehrt, doch einige Prinzipien einzuhalten und du hast uns eine Brücke gebaut, damit wir dich jederzeit besuchen konnten. So kommt es, dass alle unsere Nägel exakt eingeschlagen, unsere Holzbank perfekt geschliffen und lackiert und unsere Vogelhäuschen kleine Vogelvillen wurden. Und ich glaube, die Sachen sind alle so gut hergestellt, dass sie uns alle überleben werden. Du wusstest immer genau, wie man die Dinge in die Hand nimmt und wenn nicht, hast du über Nacht eine Lösung gefunden, garantiert. Du warst ein wahrer Erfinder.
In der Woche vom 17. Dezember 2016 besuchte ich dich wieder im Spital. Von deinem Zimmer aus sah man über den gesamten Sempachersee bis zu den verschneiten Bergen, welche sich mit der Abenddämmerung im Seewasser spiegelten. Der Himmel war brennend rot, es war ein unglaublich schöner Ausblick. Du warst sehr schwach. Mami hat dann das Radio eingeschaltet und zu unserer Verwunderung erklang der Song von Harry Belafonte: Island in the sun. In deinen Augen erkannte man die Wichtigkeit, die dieser Song für dich hatte. Du blicktest zu Grossmi hoch, welche mit wässerigen Augen das Lied mitsummte. Ihr seid für einen Moment lang glücklich und traurig zugleich gewesen und habt gemeinsam in euren Erinnerungen geschwelgt, ihr habt euch daran erinnert, wie ihr früher zusammen tanzend durch das Wohnzimmer geschwebt seid.
Ich war froh, diesen Moment in all der schwierigen Zeit miterlebt zu haben. Es war traurig, aber auch schön, es war schön zu wissen, dass du ein schönes Leben hattest. Es war nicht immer einfach, aber es war schön. Ich verspreche dir hiermit, dass wir alle aufeinander aufpassen werden und vor allem auf Grossmi, welche dich tapfer und gefasst bis zum Schluss mit aller Liebe begleitet hat und immer noch stark genug ist, uns jeden Tag zu trösten. Du hast vieles immer mit Humor genommen und ich werde es nie vergessen, dein schelmisches Lachen, das du uns erst noch immer wieder geschenkt hast. Was uns an dieser Stelle ein bisschen Hoffnung gibt, ist der Glaube daran, dass du nun bei meinem Gotti, deiner Tochter, bist. Wir erleben traurige Tage, aber ich weiss, dass es besser wird, auch wenn du in unserem Leben immer fehlen wirst.