«Stigmatisierungen gibt es noch immer»

1874 wurde der «Hülfsverein für arme Irre» gegründet, heuer feiert «Traversa» seinen 150. Geburtstag. Nicht nur der Name hat seither gewechselt. Sondern auch die Aufgabe des Netzwerks, wie Geschäftsführerin Ursula Limacher im Interview sagt.

"Zeig deinen Vogel". Mit diesem provokativen Transparent nehmen Menschen mit psychischer Erkrankung und Mitarbeitende von Traversa an der Mad Pride zur Sensibilisierung von psychischen Erkrankungen teil. Foto: zvg
Stephan Weber
Laut der neuesten Gesundheitsbefragung, die seit 1992 alle fünf Jahre durchgeführt wird, geht es 85 Prozent der Schweizerinnen und Schweizern gut. Ihnen auch?
Ursula Limacher*: Danke der Nachfrage. Ja, mir geht es gut.

Was die Statistik leider auch zeigt: Bei jüngeren Menschen nehmen die psychischen Erkrankungen zu. Spüren Sie das auch bei Traversa?
Ja, das merken wir. Wir haben immer mehr Anfragen von jungen Menschen. Nehmen wir als Beispiel das Wohnhaus Sonnenbühl in Kriens: Dort sind aktuell von den insgesamt 18 Bewohnenden zwölf Personen unter 30 Jahre alt. Im Wohnhaus Steinibach in Horw sind gar 17 Personen von total 21 noch nicht 30-jährig. Unsere Angebote richten sich an Menschen ab 18 Jahren. Wir haben aber auch Anfragen von Personen, die noch nicht volljährig sind.

Bleiben jüngere Menschen so auf der Strecke? Immer wieder ist zu lesen, dass Jugendliche, die psychische Probleme haben, lange warten müssen, bis ihnen geholfen wird.
Bei den Jugendlichen sind uns in der Tat die Hände gebunden. Dieses Problem kann die Traversa nicht lösen. Unser Leistungsauftrag sieht vor, Menschen ab 18 Jahre bis zum AHV-Alter zu unterstützen. Natürlich arbeiten wir eng mit Partnerorganisationen – etwa mit der Luzerner Psychiatrie – zusammen und verweisen Personen an die zuständigen Stellen. Leider im Wissen, dass die Plätze wohl bereits gefüllt sind.

Macht die Politik zu wenig?
Ich lasse mich etwas auf die Äste hinaus, wenn ich über den Bedarf für Jugendliche rede, da wir für die Erwachsenen zuständig sind. Gleichwohl bin ich überzeugt: Es braucht mehr Angebote für junge Leute.

Mehr jüngere Menschen wohnen in ihren Wohnhäusern oder nehmen ihre ambulanten Angebote wahr. Was hat das für Folgen für Traversa?
Es verändert sich die Dynamik in den Wohnhäusern. Es gibt mehr Ein- und Austritte und es kommt so zu häufigeren Wechseln. Auch das Thema Verbindlichkeit sinkt. Ein Gesellschaftsphänomen, das vielerorts zu beobachten ist.
 
Was meinen Sie damit?
Wir machen oft Eintrittsgespräche oder Abklärungen und dann tauchen die Personen ganz kurzfristig doch nicht auf. Und: Junge Menschen benötigen möglicherweise mehr Präsenz als Personen, die seit Jahren oder Jahrzehnten mit psychischen Erkrankungen unterwegs sind und gelernt haben, damit umzugehen.
 
Wie sieht es bei den Anfragen von älteren Personen aus?
Auch dort spüren wir eine vermehrte Nachfrage. Es gibt mehr Anfragen in der Sozialberatung oder beim begleiteten Wohnen. Wir führen das darauf zurück, dass seit Corona vermehrt über psychische Krankheiten berichtet wird.
 
Konkret: Wie hilft Traversa Menschen mit einer psychischen Erkrankung?
Unser Ziel ist es, die Lebenssituation von Menschen mit psychischer Erkrankung zu verbessern. Wir führen sechs Wohnhäuser mit fast 100 Plätzen. Unsere ambulanten Angebote wie begleitetes Wohnen, die Sozialberatung, das Tageszentrum oder die Beratungsstelle, die von Peers geleitet wird, erreichen noch einmal sehr viel mehr Personen.
 
Peers sind Personen, die selber Erfahrungen mit psychischen Krankheiten gemacht haben und die Fachpersonen unterstützen. Warum ist das ein nötiges Angebot?
Für Traversa ist es eine grosse Bereicherung, weil es einen zusätzlichen Fokus auf unsere Arbeit gibt. Es ist uns wichtig, die Zuversicht zu stärken, dass ein sinnvolles Leben auch mit einer psychischen Erkrankung möglich ist. Peers bringen uns ihre Erfahrung näher, wie sie mit einer psychischen Erkrankung leben. Ein Beispiel: Wenn Leute unsere Sozialberatung aufsuchen, werden sie von Sozialarbeiterinnen beraten, die mit viel Berufserfahrung beraten. Ihr Wissen haben sie sich angeeignet. Peers dagegen beraten mit Erfahrungen, welche sie tatsächlich so erlebt haben. Das ist ein grosser Unterschied. Wir finden: Es benötigt beides. Zudem zeigen wir: Menschen mit eigenen Erfahrungen mit psychischen Krankheiten lassen sich in den Arbeitsprozess eingliedern.
 
In der Gesundheitspolitik gilt die Maxime «ambulant vor stationär». Auch bei Ihnen?
Bei uns gilt: Ambulant und stationär. Die Traversa wird oft über die Wohnhäuser wahrgenommen. Fakt ist aber: Wir haben unser ambulantes Angebot seit Jahren stetig weiterentwickelt. So gibt es zum Beispiel die Sozialberatung und das begleitete Wohnen seit Jahrzehnten. Gleichzeitig benötigt es aber auch unbedingt stationäre Angebote für Menschen, denen der tägliche Kontakt und die Gespräche mit Begleitpersonen sehr wichtig sind.
 
Viele Branchen klagen über fehlendes Fachpersonal. Auch Sie?
Nein, glücklicherweise noch nicht. Wir konnten bis jetzt immer genügend Fachpersonen rekrutieren. Wir führen das darauf zurück, dass wir Ausbildungs- und Praktikumsplätze anbieten und so ehemalige Lernende oder Praktikanten sehr oft zu uns zurückkehren. Zudem arbeiten wir eng mit den Hochschulen zusammen, wo wir Inhalte anbieten und wo Mitarbeitende von uns dozieren. Das Arbeitsklima ist uns sehr wichtig. Alle unsere Mitarbeitenden besuchen regelmässig Supervisionen. Bei der letzten externen Personalbefragung erzielten wir eine extrem hohe Zufriedenheit, was uns sehr gefreut hat. Was wir aber durchaus spüren: Es sind weniger Fachpersonen auf dem Markt.

Werden psychische Erkrankungen heute noch stigmatisiert?
Die Stigmatisierung gibt es noch immer. Was meinen Sie, würden Sie ihren Freunden genauso vom Nierenleiden erzählen wie von der Depression? Wir wählen sehr genau aus, wem wir was sagen. Heisst: Somatische und psychische Erkrankungen werden nicht gleichwertig betrachtet.

Mir ist aufgefallen: Ihre stationären Angebote liegen in Sursee, Kriens, Meggen, Luzern und Horw. Warum ist Traversa im Wiggertal oder Hinterland nicht präsent?
Ob Wiggertal, Hinterland oder auch im Entlebuch: Wir werden von dort kaum mit Anfragen konfrontiert. Das kann verschiedene Gründe haben: Auf der Landschaft ist man möglicherweise besser eingebunden ins Sozialleben, in der Stadt oder Agglomeration ist dafür die Anonymität eher gewährleistet. Fakt ist: Wir versuchen, seit Jahren im Seetal etwas aufzubauen. Pro Angebot kommen fünf bis sieben Personen pro Woche. Das ist konstant, aber doch eher wenig. Und das Tageszentrum, das wir einst in Wolhusen betrieben, kam nie in die Gänge.

Traversa feiert heuer ihr 150-Jahr-Jubiläum. Was bedeutet der Geburtstag für Ihre Institution?
Wir freuen uns, dass es uns noch gibt nach all den Jahren. Das ist bemerkenswert. Wenn wir in die Gründungszeit zurückblicken, als das Telefon erfunden wurde und erste Autos auf den Strassen verkehrten. Wir haben es geschafft, uns in den 150 Jahren all den veränderten Situationen anzupassen und uns weiterzuentwickeln. Und das alles dank der Pioniere, die vor 150 Jahren die Initiative ergriffen haben und beschlossen haben, dass es für Menschen mit einer psychischen Erkrankung Unterstützung braucht.

Sie feiern das Jubiläum mit verschiedenen Anlässen. Worauf haben Sie Wert gelegt?
Einerseits wollen wir das Jahr nutzen, um unsere Angebote einem breiten Publikum bekannt zu machen und so Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Andererseits wollen wir zusammen mit unseren Klienten, Gästen und Mitarbeitenden feiern. Das darf ruhig auch mal sein. Es soll ein Dankeschön sein für alle, die sich für Traversa engagieren.

Sie haben anlässlich der Feierlichkeiten acht Kurzfilme realisieren lassen. Warum?
Personen die zu uns kommen wollen, möchten wissen, wie es in den Wohnhäusern aussieht und sich so ein Bild machen. Wir möchten auf diese Weise die Türen öffnen. Allerdings gilt es, die Privatsphäre der Klientinnen und Klienten zu wahren. Deshalb veranstalten wir selten Tage der offenen Türen. So kamen wir auf die Idee, von all unseren Angeboten einen Kurzfilm zu drehen. Wir möchten offen und transparent sein und Einblicke gewähren. Aber eben: Wir wollen auch unsere Klienten schützen.

Ein Wunsch zum Schluss.
Darf ich zwei Wünsche anbringen? Wir möchten unseren Teil dazu leisten, dass zukünftig psychische Erkrankungen gleich gewertet werden in der Gesellschaft wie somatische Erkrankungen. Zudem wünsche ich mir, dass unsere Angebote ausfinanziert werden. Heute unterstützen etwa Spenderinnen und Spender die Sozialberatung jedes Jahr mit 100 000 Franken. Wir sind also nach wie vor auf Spenden angewiesen.

*Ursula Limacher ist Geschäftsführerin von Traversa. Sie ist ausgebildete psychologische Beraterin SGIPA und hat ein MAS Philosophie und Management an der Uni Luzern absolviert. Sie ist Mutter von vier erwachsenen Kindern und lebt mit ihrem Partner in Kriens.

Aktiv in drei Kantonen

Traversa ist das Netzwerk für Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Der Verein arbeitet in den Kantonen Luzern, Nidwalden und Obwalden. Er bietet eine Vielfalt von stationären und ambulanten Angeboten an. Dazu gehören sechs Wohnhäuser, begleitetes Wohnen, Sozialberatung, das Tageszentrum Luzern, ein Treffpunkt im Seetal und eine von Peer-Personen geleitete Info- und Beratungsstelle. Angebote für Gespräche und Beratungen sind gratis.

Am 7. Mai feiert der Verein sein 150-Jahr-Jubiläum mit einer feierlichen Jahresversammlung. Am 6. Juni findet zudem eine Jubiläums-Fachtagung statt, in welcher es auch um die Zukunft der Traversa-Angebote geht. Die halbtägige Veranstaltung ist offen für Menschen mit psychischer Erkrankung, Angehörige, Fachpersonen und weitere Interessierte. Es sind noch Plätze frei. Anmeldung via www.traversa.ch. (Astrid Bossert Meier)

Die wechselvolle Geschichte der Institution

Im ersten Schritt blickt er auf die Anfänge des 1874 gegründeten «Hülfsverein für arme Irre des Kantons Luzern» zurück. Der Verein sei schon damals in der Stadt Luzern verankert gewesen, es habe aber auch lokale Sektionen in Grosswangen, St. Urban und Pfaffnau-Roggliswil gegeben, schreibt Gallati. Die Aufgabe des Vereins besteht in den Anfangsjahren vor allem damit, den «Sinn und Zweck einer noch neuen (Anstalts-)Psychiatrie zuerst einmal bei den Ärzten und in der Bevölkerung bekannt zu machen und zu erklären».

Die 1920er-Jahre sind geprägt durch die Wissenschaft der Eugenik. Ihre Anhänger («Eugeniker») kritisieren die Arbeit sozialer Institutionen, die sich um die individuelle Unterstützung von Armen, Kranken und Schwachen kümmern. Armut und Krankheit sei weder eine Strafe Gottes, noch ein individueller Schicksalsschlag, noch milieubedingt, sondern biologisch zu erklären. Und zwar mit «ungünstigen Erbanlagen». Die Fürsorge der sozialen Institutionen führe zu einer «unnatürlichen» Fortpflanzung «minderwertiger» Menschen und «letztlich zum Untergang der Nation».

Im dritten Schritt (Emanzipation) wird die Zeit von Traversa während den Kriegsjahren thematisiert. Es ist jene Epoche, in der sich die soziale Arbeit innerhalb der psychiatrischen Hilfe vom medizinisch-psychiatrischen Diskurs emanzipiert und eine eigene Professionalität entwickelt. Als Vorbilder fungieren Organisationen wie Pro Senectute, Pro Juventute und Pro Infirmis. Vermehrt verschaffen sich die Frauen Gehör. 1938 wird mit Margrit Nufer erstmals eine Frau als Fürsorgerin vorgestellt. Diese Anstellung, so Gallati, bedeutet in mehrfacher Hinsicht «einen Riesenschritt in der Geschichte des Hilfsvereins».

Unter dem Stichwort «Partizipationen» beleuchtet der Historiker die Zeit seit den 1990er-Jahren. 2010 wird ein kompletter Neuanfang gewagt. In den Statuten ist nicht mehr von psychisch Kranken die Rede, sondern von Menschen mit einer psychischen Krankheit. Der Begriff «Hilfe» wird durch ein partizipatives «Netzwerk» ersetzt. An den Jahresversammlungen stehen nicht mehr Einzelreferate im Zentrum, sondern Tagungen, an denen Fachleute, Betroffene und Angehörige zu Wort kommen.

Quelle: 140 Jahre Traversa, Eine Geschichte in vier Schritten. Von Mischa Gallati, Historiker und Volkskundler. Ausgabe: 2014

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