"Diesen Krieg werden Generationen spüren"

Zita Affentranger schreibt als langjährige Russland-Korrespondentin des Tages-Anzeigers und Auslandredaktorin seit mehr als 20 Jahren über die Entwicklungen in Osteuropa. Ein Gespräch mit der Grossdietwilerin über Wladimir Putin, nukleare Waffen und die Zukunftsperspektiven des zweitgrössten Landes in Europa.  

 

Menschen fliehen vor dem Krieg in der Ukraine und suchen Zuflucht im benachbarten Ausland. Hier am Grenzübergang Ubla in der Slowakei. Foto Keystone
Stephan Weber

Vor etwas mehr als einer Woche hat Wladimir Putin der Ukraine den Krieg erklärt, am Donnerstagmorgen in der Früh hat er auch wirklich angegriffen. Waren Sie überrascht von den Attacken?
Lange habe ich nicht gedacht, dass er das wirklich wagen würde. Zu unvorhersehbar schienen mir die Konsequenzen für sein Land. Als er jedoch am Montag vor einer Woche in seiner TV-Ansprache gegen die Ukraine, die Nato und den Westen wetterte, rechnete ich mit einer Intervention. Ich habe sechs Szenarien eines Angriffs ausgearbeitet. Dass Putin dann aber mit allem gleichzeitig losschlägt – zu Wasser, zu Land und in der Luft – hat nicht nur mich überrascht, sondern auch Ukrainerinnen und Ukrainer.

Wie sieht es bei seinen Landsleuten aus: Haben sie damit gerechnet, dass er Ernst macht?
Die Russinnen und Russen sind verwirrt in diesen Tagen. Kein Wunder: Putin hat in seinem Land nie von Krieg geredet. Im Gegenteil: Er hat seinen Landsleuten immer versichert, dass Russland keinen Krieg wolle. Es sei der Westen, der Hysterie schüre mit angeblichen Angriffsplänen und Daten, die verstrichen, ohne dass etwas passierte. Nach seiner Fernsehansprache, wo er über die Ukraine und den Westen herzog, tönte es dann sehr bedrohlich. Plötzlich war nicht mehr die Rede von Gesprächen und Verhandlungen. Am Donnerstagmorgen um 6 Uhr russischer Zeit erklärte er seiner Nation in einer halbstündigen Rede den Angriff. Auch hier: Das Wort «Krieg» kam dabei kein einziges Mal vor.
 
Was ist der Hauptgrund, dass zu dieser Eskalation gekommen ist?
Darüber rätseln alle. Es gibt ja keinen akuten Grund und keinen konkreten Auslöser für diese Eskalation. Und für die angelaufene Invasion erst recht keine Rechtfertigung.
 
Sein Angriff bleibt also im Dunkeln.
In seiner Rede sagte er, Russland sei bedroht. Der Angriff sei ein Akt der Selbstverteidigung. Nur: Weder die Nato noch die Ukraine haben vorgehabt, Russland anzugreifen. Das ist seine Erklärung, aber die stimmt einfach nicht.
 
Wer Putins Kriegserklärung liest oder gehört hat, dem fällt auf: Der Kreml-Chef brauchte harte Worte, er sprach von der ukrainischen Regierung als «Nazis». Warum diese Wut?
Blicken wir kurz zurück: 2014 kam eine prowestliche Regierung in Kiew an die Macht, die später in Wahlen vom Volk bestätigt wurde. Diesen Machtwechsel hat Putin nie akzeptiert und die frei gewählte ukrainische Führung immer entweder als «Junta» oder «Nazis» bezeichnet, weil an den Unruhen damals auch rechtsradikale Kreise beteiligt waren. Jetzt sagt Putin, er wolle die Ukraine «entnazifizieren». Sein Kriegsziel ist klar: Er will die Regierung in der Ukraine stürzen.
 
Entscheidet Putin solch drastische Schritte alleine? Oder auf wen hört er?
Er hört auf einen kleinen Kreis von alten Freunden, die meisten sind langjährige Gefährten aus den Sicherheitsdiensten, etwa der Verteidigungsminister. Mit ihnen trifft er seine Entscheidungen. Insgesamt sind alles Leute aus dem Militär, der Polizei oder dem Geheimdienst. Moderate Stimmen kommen dort nicht zu Wort.
 
Was könnte ihn zum Einlenken bringen, diesen Krieg zu stoppen?
Die Sanktionen werden ihn nicht stoppen, er verlangt eine Kapitulation der Ukraine und ihre Erklärung, dass sie sich nie der Nato anschliesst und neutral bleibt. Vielleicht nützt das aber auch nichts. Putin will die ukrainische Regierung ja wegen angeblichen Verbrechen in der Ostukraine vor Gericht bringen und seine Gefolgsleute an die Staatsspitze hieven.

Wie begegnet er den angedrohten Sanktionen?
Grosse Sanktionen gab es bereits 2014 bei der Annexion der Krim. Dieses Mal scheint er die Sanktionen nicht mehr so locker zu nehmen wie damals. Putin hat mit Gegendrohungen reagiert. Man wird sehen, was kommt. Eine Prognose ist schwierig.
 

"Die Ukraine wird als traumatisiertes Land zurückbleiben"
Zita Affentranger
Russland-Korrespondentin

Sie haben mit ihrer Familie fünf Jahre in Moskau gelebt, sind jahrelang als Russland-Korrespondentin tätig: Was halten die Russinnen und Russen von diesem Krieg?
Die wollen diesen Krieg nicht, ganz klar. Es ist die russische Führung, welche den Kontakt zur Realität verloren hat und diesen Krieg will. Wissen Sie: Niemand in der Ukraine will sich befreien lassen. Die Russen werden auf heftige Gegenwehr stossen. Nicht nur Ukrainer werden in diesem Krieg sterben, es werden auch russische Soldaten tot in ihre Heimat zurückkehren. Und das wollen die Russen garantiert nicht.

Was müsste passieren, dass Putin die Unterstützung seiner Landsleute verliert?
Wenn die Sanktionen das Land in eine Wirtschaftskrise stürzen, der «einfache» Bürger darunter leidet und der Krieg zu vielen russischen Opfern führt, kann das zu einem Risiko für Putin werden. Ich sehe noch eine weitere Gefahr für den russischen Präsidenten: Viele Russinnen und Russen stammen aus der Ukraine, haben dort Verwandte und Freunde. Es wird Bilder geben, in welchem die russische Armee ukrainische Zivilisten terrorisiert. Das wird für ihn Auswirkungen haben und könnte plötzlich zu einer unangenehmen Dynamik führen.
 
Gleichwohl: Kritiker und Oppositionelle hält er seit Jahren erfolgreich in Schach.
Das stimmt, er hat sie dank Zwangsmassnahmen und dank der Polizei gut im Griff. Die Tausenden Russen, die gegen den Krieg protestierten, liess er festnehmen. Die Opposition ist zerschlagen, kritische Journalisten hat er als ausländische Agenten gebrandmarkt. Nur: Deswegen ist das Volk mit dem Krieg noch lange nicht einverstanden.   
 
Woher hat er denn die Unterstützung seiner Landsleute?

Als Putin 1999 an die Macht kam, stand das Land wirtschaftlich sehr schlecht da. Russland war quasi von einer Weltmacht zum Nichts zusammengefallen. Das war für die Bevölkerung sehr schmerzhaft. Die Oligarchen beuteten das Land aus, der Bevölkerung blieb kaum etwas. Dann kam Putin, zog die Zügel an und das führte zu einer gewissen Stabilität. Die Wirtschaft erholte sich dank des hohen Ölpreises. Russland spielte in der Welt wieder eine Rolle. Das haben ihm viele Russinnen und Russen nie vergessen und sind ihm heute noch dankbar dafür.
 
Aber wird die Invasion seinem Ansehen keinen Schaden bringen?
Das ist die entscheidende Frage. Wenn die Leute spüren, dass ausgerechnet die Aktion ihres Präsidenten ihnen ein sehr schwieriges Leben beschert, wird das nicht ohne Folgen bleiben. Man muss wissen: An diesem Ukraine-Krieg werden ganze Generationen zu beissen haben.   
 
«Nach diesem schwarzen Tag wird nichts mehr so sein, wie es vorher war», haben Sie das Geschehen im «Tages-Anzeiger» kommentiert. Wie meinen Sie das?
Wir alle haben doch gedacht, ein Krieg mitten in Europa werde es nie mehr geben. Wir seien erwachsen geworden und tragen unsere Händel mit Worten und nicht mit Waffen aus. Aber diese Zeit ist offensichtlich vorbei. Die Ukraine wird als traumatisiertes, in seiner Unabhängigkeit beschnittenes Land zurückbleiben und kaum Zukunftsperspektiven haben. Russland wird sich zunehmend weiter isolieren und von Europa abgeschnitten werden.
 
Sie waren Anfang der 1990er-Jahre, kurz bevor die Sowjetunion zusammenbrach, in Moskau.
Ja, ich habe dieses Gefühl des Aufbruchs, das Gefühl, jetzt ist eine neue Zukunft möglich, sehr intensiv miterlebt. Jetzt ist von diesen Träumen nichts, aber auch gar nichts, übrig geblieben. Die russische Invasion in der Ukraine ist wie der Endpunkt. Und das ist sehr bitter.

"Die Russinnen und Russen wollen diesen Krieg nicht"
Zita Affentranger

Russland besitzt scheinbar die Hälfte aller Atomwaffen weltweit. Wie gross ist die Gefahr, dass Putin diese einsetzt?
Da würde ich mir keine allzu grossen Sorgen machen. Diese Drohungen richten sich natürlich gegen den Westen, und zwar vor allem gegen die Amerikaner. Joe Biden hat schon länger klar gemacht, dass er keine Soldaten in die Ukraine schickt. Darum sehe ich keine Gefahr einer nuklearen Eskalation.  
 
Russinnen und Russen haben Verwandte in der Ukraine, umgekehrt haben Ukrainerinnen und Ukrainer Freunde in Russland. Welchen Bezug zur Ukraine haben Sie?
Einen engen. Als Studentin lernte ich ein paar Semester Ukrainisch, reiste in den 90er-Jahren, als noch kaum jemand dieses Land kannte, quer durch die Ukraine, auf den Spuren grosser Denker und Literaten. Danach besuchte ich das Land mehrmals, ich war als Korrespondentin ja auch für die Ukraine zuständig. 2004 war ich bei der Orangen Revolution auf dem Unabhängigkeitsplatz und sah, wie Hunderttausende Ukrainer ihrer korrupten Führung klipp und klar ihre Meinung kundtaten. Auch die besetzten Gebiete habe ich besucht, ich war in Donezk, Charkiw und Kiew – alles Städte, die heute unter russischem Beschuss sind. Es tut einem im Herzen weh.

Heute am Tag dieses Gespräches ist Tag zwei des Ukraine-Krieges: Gehen Sie von einem länger andauernden Krieg aus?
Das ist zu befürchten. Allerdings ist die Entwicklung noch völlig unklar. Niemand kann da eine Prognose machen.
 
Der Bundesrat hat den Angriff verurteilt, war bei den Sanktionen in ersten Reaktionen aber zurückhaltend, was ihm Kritik der Parteien einbrachte. Teilen Sie diese Kritik?
Die Schweiz muss bei diesen Sanktionen mitmachen, sie darf kein Sonderzügli fahren. Klar: Die Sanktionen werden den Krieg nicht stoppen. Aber andere Möglichkeit hat man ja nicht, wenn man den Krieg nicht mit Gewalt lösen will. Amerikaner und Europäer, darunter auch die Schweizer, müssen jetzt zusammenstehen und Einheit demonstrieren. Vor allem sollte die Schweiz verhindern, dass die russische Regierung die Sanktionen umgehen kann, indem sie auf die Schweiz ausweicht.  
 
Wird die Schweiz denn gehört?
Es geht nicht darum, Drohungen auszustossen. Man soll einfach konsequent bleiben und mit klarer, ruhiger Stimme sagen: So geht das nicht.
 
Gibt es etwas, was Ihnen in diesen Tagen Mut und Zuversicht verschafft?
Zugegeben: Nach dieser struben Woche fehlt mir dafür die Zuversicht. Aber vielleicht sieht das in ein paar Tagen besser aus. Hoffen wirs.

Stephan Weber

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