Er weiss, wie Staus zu verhindern sind

Überfüllte Stras­sen, teurer Unterhalt: Die Verkehrszunahme bringt die heutigen Transportsysteme an ihre Grenzen. Was lässt sich dagegen tun? Der Zeller Ingenieur Hermann Spiess beschäftigt sich seit Jahren mit Verkehrsfragen. In einem Manuskript skizziert er visionäre und provokative Lösungsvorschläge.

 

Der Zeller Hermann Spiess hat Ideen, wie solche Bilder von Verkehrsüberlastungen vermiden werden können: mit Fahrgemeinschaften. Foto Pixabay
Stephan Weber

Ob zwischen Härkingen und Wiggertal, beim Gubristtunnel oder in den Agglomerationen grosser Städte: In diesen Regionen kommt es wegen übervollen Strassen besonders häufig zu Staus. Kein Wunder, wenn man sich vor Augen führt, was Litra, die Plattform für Verkehrspolitik in der Schweiz, ausweist: Private Autos leisteten im Jahr 2018 etwa 102 Milliarden Personenkilometer. Öffentliche Verkehrsmittel wurden für beinahe 26 Milliarden Personenkilometer verwendet. Während die Passagiere in öffentlichen Transportmitteln zu wenig Sitzplätze beklagen, möchten Autofahrer mehr Platz für ihre Autos. Die Zunahme des Verkehrs bringt die Transportsysteme unweigerlich an ihre Grenzen. «Allerdings wird gerne übersehen, dass beide Systeme zusammen betrachtet eigentlich über weitaus genügend Transportkapazitäten verfügen würden. Man müsste nur den öffentlichen Verkehr neu denken», sagt Hermann Spiess. Der in Zell wohnhafte Ingenieur hat genau das gemacht. Der 52-Jährige hat Studien gewälzt, Konzepte gelesen und Statistiken ausgewertet. In einem Manuskript mit 90 Seiten Inhalt hat er einen Ansatz begründet und formuliert, wie sich die Verkehrsprobleme der Schweiz lösen könnten. Titel des Schreibens: «Der öV als Katalysator für weniger Strassenverkehr oder: Wie das Auto den öV verbessert».

Viele leere Plätze im Privatauto
Für Hermann Spiess wird die Strasseninfrastruktur überhaupt nicht effizient genutzt. Privatautos stehen den grös­sten Teil des Tages herum und wenn sie in Bewegung sind, dann sitzen in einem Fünfplätzer im Schnitt 1.6 Personen. «Mit den freien Sitzplätzen im privaten Strassenverkehr könnte die Transportleistung des öffentlichen Verkehrs fünf bis sechs Mal erbracht werden», sagt der «Verkehrslogiker». Er ist überzeugt: Wenn die Autofahrer mit ihren freien Sitzplätzen das öV-Angebot ergänzen, gewinnt der öffentliche Verkehr schnell und einfach mehr Transportkapazität und vervielfacht seine Reichweite. Mit dem Smartphone gebe es heutzutage keine technischen Hürden mehr, um die Verkehrsinfrastruktur besser auszunützen, so Spiess. Konkret schwebt dem Zeller ein «spontanes Mitfahrsystem» vor, indem Autofahrer ihre Fahrstrecken bei der Abfahrt regis­trieren und diese im öffentlichen Fahrplan der Öffentlichkeit als zusätzliche Transportmöglichkeiten angeboten würden. So würden freie Transportkapazitäten des Individualverkehrs für die Allgemeinheit nutzbar, «ohne dass die Autofahrer ihre Freiheit einschränken müssen», so Spiess. Und das mit einem «öffentlichen Fahrplan», wie er bereits gang und gäbe ist. Im Gegensatz zu anderen Mobilitätslösungen wie «Uber» oder «Flix-Bus» entstünde so kein zusätzlicher Strassenverkehr und  die Passagiere würden CO₂-neutral befördert. In der Stadt oder der Agglomeration, so der Ingenieur weiter, würde dieses Transportangebot Tram- und Buslinien entlasten. Und auf der Landschaft würden Alternativen entstehen in Siedlungen und Weilern, welche bisher gar nicht oder kaum durch den öffentlichen Verkehr erschlossen sind. «Mit Fahrgemeinschaften liessen sich Verkehrsüberlastungen vermeiden und es brächte keine zusätzliche Verkehrsinfrastruktur. Denn klar ist längst: Mehr Strassen führen auch zu mehr Verkehr», so Spiess.

«Überflüssige» Postautofahrer
Die Lösungsvorschläge von Hermann Spiess tönen einleuchtend. Trotzdem: Mitfahrsysteme sind ja keine neuen Erfindungen. Ein Beispiel ist «Taxito», das auch in der WB-Region angeboten wird und wo Autofahrer Gäste mitnehmen, die ihr Ziel an Haltestellen per SMS sichtbar machen. «Taxito ist gut und recht. Aber wie bei vielen anderen Mitfahrsystemen auf der Strasse fehlt es auch hier an Passagieren. Zudem ist Taxito an feste Haltestellen gebunden. Mein Vorschlag ist da flexibler», sagt der gebürtige Ostschweizer.
Der öV-Anteil am Gesamtverkehr beträgt in etwa 20 Prozent. Tendenz abnehmend. Darf man ein öffentliches Verkehrsmittel, welches heute nur noch einem Fünftel aller Transportbedürfnisse der Bevölkerung gerecht wird, überhaupt noch öffentlich nennen und dieses auch so finanzieren?, fragt Spiess etwas provokativ in seinem Manuskript. Die Antwort gibt er selber: «Das Ziel muss doch vielmehr sein, den öV wieder zu einem Transportmittel für die Mehrheit der Bevölkerung zu entwickeln. Und dazu einen Teil der bereits vorhandenen Fahrzeuge – die privaten Autos – für den öV zu nutzen.» Dass damit viele Postautofahrer in Randzeiten «überflüssig» würden, streitet der Luzerner Hinterländer nicht ab. «Fakt ist halt auch, dass die Postautos im Schnitt mit nur neun Passagieren besetzt sind.» Ein Auto besser zu füllen, welches sowieso die gleiche Strecke fährt, sei «preiswerter und mindestens so ökologisch».

In Frankreich zahlt der Staat
Damit kommen wir zu einer entscheidenden Frage: Wären die Autofahrer überhaupt bereit, fremde Personen im Auto mitzutransportieren? Hermann Spiess ist überzeugt. Mehrere Studien hätten dies gezeigt. Zudem würden weltweit bereits heute 150 Millionen Personen bei «Uber» und der Fahrgemeinschaft «BlaBlaCar» mitmachen. Und: In Frankreich belohne der Staat seit 2020 Verkehrsteilnehmer, welche umwelt- und ressourcenschonende Verkehrsmittel berücksichtigen oder mit ihrem Auto selber solche Transportleistungen anbieten, mit einer Pauschale. Dazu erhalten die Autofahrer die Kosten ihres Autos vergütet.  

Hermann Spiess hat sein Manuskript breit gestreut. Damit seine Vorschläge nicht zu einem Papiertiger werden, hat er sie auch an wichtige öffentliche Bundesämter geschickt. Eine Antwort erhielt er auch von Verkehrsministerin Simonetta Sommaruga – allerdings nur einen standardisierten Antwortbrief. «Obwohl sie in einer Rede an der Mobilitätstagung des Bundesamtes für Raum­entwicklung genau solche verkehrsübergreifende Ansätze forderte wie sie in meinem Manuskript geschildert werden», sagt er etwas enttäuscht.
Der Zeller hat zwei Wünsche: Erstens möchte er mit seinen Gedanken die Bevölkerung anregen, einmal in die leeren Autos auf der Strasse zu schauen, wenn sie an der Bushaltestelle auf den Bus warten. Und zweitens möchte er Städte und Agglomerationen mit akuten Verkehrsproblemen zur Durchführung eines Pilotprojektes anregen, damit die Bevölkerung praktisch erleben kann, wie ein spontanes Mitfahrsystem funktioniert. Genau in diese Richtung gehen auch die Empfehlungen einer Forschungsarbeit des Bundesamtes für Strassen (Astra). Spiess sagt: «Mein Ziel ist es, dass Autofahrer ein paar Wochen lang ihre persönlichen Fahrpläne anderen zur Verfügung stellen würden. Ich bin zuversichtlich: Es würde klappen». Sein Konzept schliesst mit einem Zitat einer amerikanischen Ethnologin: «Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe engagierter Menschen die Welt verändern kann. Tatsächlich ist dies die einzige Art und Weise, in der die Welt jemals verändert wurde».

Stephan Weber

"Die Strassen werden überhaupt nicht effizient genutzt."
Hermann Spiess
Verkehrslogiker

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Achermann

Mo 05.07.2021 - 21:09

Ich würde sehr gerne mit anderen Personen zusammen im Auto reisen. Jedoch scheitert es Oft daran, dass man in der nähe von Autobahneinfahrten keine Parkplätze gibt. In Dagmersellen wurden diese sehr gut genutzt. Jedoch wurde beim Ausbau der Kreisel vorhandene Parkplätze nicht wieder gebaut.

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