Und dann diese Stille

Noch bevor Jorina Woodtli das Licht der Welt erblickte, hat ihr Herz aufgehört zu schlagen. Über das Schicksal einer Familie mit einem Sternenkind.

Jorina Woodtli wurde am 17. April des vergangenen Jahres still geboren. Foto Sheila Lang, Herzensbilder
Chantal  Bossard

Der Mami-Bauch war chugelirund. Mit beiden Armen hat er ihn vorsichtig umarmt und ein Ohr daraufgelegt. Und dann hat er es gehört, das Bébé darin. Leise zwar nur, aber «es hed werkli güüssed». Ganz hoch, so wie es nur Mädchen tun. Aurel freute sich. Der Viereinhalbjährige wusste als Allererster: Er bekommt ein Schwesterchen. Und er sollte Recht behalten: Am 17. April 2020 gebar Gabriela Woodtli ein Mädchen. Jorina. Kopf, Arme, Beine, Zehen, Fingerchen, vollständig ausgebildet. «Aber gäu Mami», sagt Aurel, «s Härzli hed nömme pöbberlet?»

Schmötzi auf den Bauch
Martisrüti, Wauwil. Gabriela Woodtli-Furrer (31) sitzt am Küchentisch, auf ihrem Schoss der dreijährige Cornel. Vom Mittagsschlaf ist sein blonder Schopf ganz zerzaust, die Augen noch klein. Putzmunter hingegen sein grosser Bruder, Aurel. Während er Puzzle, Memory, Lego auf dem Tisch ausbreitet, erzählt Gabriela Woodtli von Jorina. «Sie war ein Wunschkind.» Eine grosse Familie: Davon träumen Gabrie­la und Reto Woodtli. Die Freude ist riesig als sie erfahren, dass Nachwuchs unterwegs ist. An Retos 30. Geburtstag teilen sie den zahlreichen Gästen mit: «Wir sind in freudiger Erwartung!» In den ersten Monaten ist ihr manchmal ein wenig übel, nichts Aussergewöhnliches. Wie zuvor schon bei Aurel und Cornel, hat sie eine gesunde und unbeschwerte Schwangerschaft. Schwingfest, Weihnachten, Fasnacht, Ostern: «So vöu schöni Moment hämmer met der döffe erläbe», schreiben die Woodtlis rückblickend in Jorinas Lebenslauf. Und weiter: «Mer hend alli soooo fescht uf dech planget.» Oder wie es Aurel ausdrückt, der mittlerweile zum zweiten Mal sein Bauernhof-Puzzle beendet hat: «Ech hätt gärn mou meteme Meitschi gspöut.» Gabriela Woodtli schaut ihre beiden Buben zärtlich an. «Ja, die zwei haben gut zu unserer kleinen Jorina geschaut.» Jeden Morgen haben sie den Bauch eingecremt, mit einer kleinen Spieluhr ganz nah am Mami-Bauch Musik abgespielt, Geschichten erzählt und dann sofort den Kopf daraufgelegt, um zu hören, ob sie von innen eine Antwort bekommen. «Und was habt ihr am Abend gemacht?», fragt Gabriela Woodtli die zwei Blondschöpfe. Cornel, inzwischen hellwach, doch noch etwas schüchtern, sagt: «Schmötzi» und streicht sich selbst über den Bauch.
Als die beiden Brüder und der Papi Jorina zum ersten Mal im Ultraschall sehen, können sie es kaum glauben. Dieser kleine weisse wirre Fleck auf dem schwarzen Bildschirm soll ihr Familienmitglied werden? Gabriela Woodtli erinnert sich daran, als wäre es gestern gewesen. «Oder als die Buben das Herz von ihr erstmals schlagen hörten – wisst ihr das noch?» Aurel und Cornel nicken begeistert. «Das Herzli vom Bébé war in Mamis Bauch und hat fest geschlagen.» Gesund und kräftig. Nichts deutet darauf hin, dass etwas nicht stimmen könnte. Am Ende der Schwangerschaft machen die Woodtlis noch einen Gipsabdruck von Gabrielas grossem, runden Bauch. Der Geburtstermin ist der 12. April. In den letzten Kontrollen und auch am Untersuch tags zuvor ist alles in bester Ordnung. «Da ich bei den Buben bereits etwas übertragen habe, rechnete ich wieder damit.» Und so kommt es: Die Wehen setzen erst knapp eine Woche später ein. Auch das: Nichts Ungewöhnliches. Eigentlich.

Die Welt verschiebt sich
Freitag, 17. April 2020, 02.30 Uhr: Gabrie­la weckt Reto Woodtli, nachdem sie seit Mitternacht ein Ziehen im Bauch spürt. «Jetzt geht es dann los», denkt sie. Gabriela und Reto Woodtli sind ein eingespieltes Team, wissen, was zu tun ist: Reto ruft beim Geburtshaus Terra Alta an und informiert Jorinas Gotti, welche auf die beiden Buben aufpassen soll.
Kurz darauf: Gabriela Woodtli liegt im Geburtszimmer des Terra Alta. Die Hebamme zeichnet die Wehen auf. Sucht die Herztöne. Doch das Abhören gestaltet sich schwieriger als sonst. Grund: Jorina hat sich mit dem Rücken nach vorne im Bauch positioniert. Eine zweite Hebamme wird hinzugezogen. Zusammen beschliessen sie, dass ein Untersuch im Spital Sursee jetzt wichtig ist. Sie beruhigten die Woodtlis, erklären, dass Herztöne deutlich gehört werden müssen, um sicher zu gehen, dass es dem Baby gut gehe. Dafür benötige es einen Ultraschall.
Im Spital Sursee wird wieder nach Kindsbewegungen gesucht. Nach Herztönen. Nach einem Lebenszeichen. Die Ärztin schüttelt den Kopf. Gabriela Woodtli begreift nicht. Es ist doch alles da, alles gut. Oder? Die Worte kommen ihr nicht über die Lippen, die Gedanken verstummen im Tumult. «Wie in einer Blase» habe sie sich gefühlt, wird sie ihr Gefühl später beschreiben. Sie wird in den Not-Operationssaal gebracht, von einem Not-Kaiserschnitt ist die Rede. Zuvor gibt es nochmals einen Ultraschall, um zu schauen, «ob es überhaupt noch was bringt». Die Ärztin fährt mit einer Sonde auf dem Bauch rum, wieder und wieder und wieder. Nochmals werden Herztöne gesucht, ein Schluckauf, oder wenigstens ein Rauschen, aber da ist nichts. Da ist nichts. Da ist nichts! Kein Leben mehr. Als Gabriela Woodtli begreift, verschiebt sich die Welt. Ruckartig. Und alles sieht anders aus. In ihrem Bauch liegt ein totes Baby. Es ist 05.30 Uhr, draussen wird es langsam Tag.

Draussen wird es langsam Tag. Foto Federico Respini

Die kleinen Mutmacher
Unverständnis. Dann Begreifen, Panik, Trauer. Bittere Tränen. Gabriela und Reto Woodtli halten sich an den Händen, versuchen sich gegenseitig eine Stütze zu sein. Man hat sie in das Gebärzimmer zurückgebracht für einen Moment der Ruhe. Woodtlis rufen ihre engsten Familienangehörigen an und einer Verwandten, die der gleiche Schicksalsschlag vor 20 Jahren auch schon getroffen hat. Stellen Fragen. Doch die lauteste davon, kann auch sie nicht beantworten: Warum? Stille Geburten zu einem so späten Zeitpunkt in der Schwangerschaft sind unglaublich selten. Nach der 17. Woche sind es knapp 2 Prozent. Warum also? Die Antwort auf diese Frage wird offen bleiben. Alle gängigen Gründe – eine vorzeitige Plazentalösung, eine Entzündung im Mutterleib oder eine Abschnürung durch die Nabelschnur – werden bei ihr nicht zutreffen, eine Obduktion nicht stattfinden, da auch sie nur in den seltensten Fällen Antworten liefert. Warum? – Gabriela Woodtli hat diese offene Frage in ihrem Leben akzeptiert. «Meistens jedenfalls», sagt sie und schaut auf das kleine Püppchen auf dem Küchentisch vor ihr. Gelber Strampler, blaue Zipfelmütze mit weis­sen Punkten, rotes Herz auf der Brust. Sie hat es im Geburtsvorbereitungskurs für ihr ungeborenes Kind genäht. Heute trägt sie es stets bei sich. Als Erinnerung. Als Glücksbringer. Als Mutmacher. Sie lächelt tapfer, doch in den Augen schimmern leise die Tränen. In dem Moment rennen Aurel und Cornel durch die Stube, Papis Akkuschrauber surrt in ihren kleinen Händen. Übermütiges Kinderlachen. Und lauter Protest, als Gabriela Woodtli das Werkzeug ihres Mannes auf dem obersten Küchenschrank deponiert. Als sie sich wieder hinsetzt, sind die Tränen aus den Augen verschwunden. «Wo waren wir?» – «Beim 17. April.» – «Richtig. Der bewegteste Tag meines Lebens.»  

Dieses Püppchen hat Gabriela Woodtli für ihr ungeborenes Kind in einem Geburtsvorbereitungskurs gemacht. Nun trägt sie es selbst stets bei sich – als Mutmacher in schwierigen Momenten. Foto Chantal Bossard

Das stumme Mädchen
Es gibt nicht nur für alles im Leben eine Checkliste, sondern auch für den Tod. Verwandte und Bekannte müssen informiert werden. Administratives organisiert. Bestattung? Gottesdienst? Erinnerungsfotos? Reto und Gabriela Woodtli müssen über den Abschied nachdenken, bevor sie ihr Kind überhaupt begrüssen konnten. Und natürlich muss entschieden werden, wie es unmittelbar weitergeht. Gabriela Woodtli ist froh, kam es nicht zum Kaiserschnitt. «40 Wochen einfach beendet mit einem Schnitt? Ohne etwas davon mitzunehmen?» Unvorstellbar. Die vaginale Geburt gehört für sie zum Prozess.
Um 17 Uhr kommen die Wehen verstärkt. Es geht los. Gabriela Woodtli presst, Reto Woodtli ist nah bei ihr, unterstützt sie, gibt ihr Kraft. 17.48 Uhr: Es ist ein Mädchen! Mit schweissnasser Stirn liegt Gabriela Woodtli da, schwer atmend. Und dann diese Stille. Den ersten Schrei, bei dem das Neugeborene automatisch nach Luft schnappt, bei dem sich die Lunge entfaltet und der Kreislauf sich auf das Leben ausserhalb des Mutterleibs umstellt: Es gibt ihn nicht. Aber da ist dieses kleine Geschöpf, 54 Zentimeter, 3960 Gramm. Jorina soll sie heissen, beschliessen die Eltern und schliessen das stumme Mädchen fest in die Arme. Jorina, die Wachsame. Noch ist sie ganz warm.
Dann wird Jorina angezogen. Reto und Gabriela Woodtli haben vorgesorgt und holen jetzt die grau karierte Hose und den hellgrünen Pulli, auf dessen Brust rot und glücklich ein Marienkäfer prangt, aus ihrem Gepäck. Das kleine Mädchen wird in ein Körbchen gelegt. Das Spital stellt diese extra für still geborene Kinder zur Verfügung. «Sie hat so herzig ausgesehen.» Stolz hätten sie sich gefühlt, in dem Moment. Froh, dass ihr Kind ein Gesicht bekommen hat. Und unendlich traurig, weil sie sahen, was sie verloren haben. Während Reto und Gabriela Woodtli sich erschöpft zurückziehen – sie wollen noch eine Nacht im Spital Sursee verbringen – wird Jorina in die Kühlkammer gebracht. «Ihr könnt jederzeit nach Jorina verlangen, dann bringen wir sie zu euch», teilt das Spitalpersonal den Woodtlis mit. Draussen ist es inzwischen dunkel. Der 17. April neigt sich dem Ende entgegen.

Bilder, die am Herzen liegen
18. April. Aurel und Cornel lernen ihr Schwesterchen kennen. Als das Gotti ihnen am Morgen zuvor mitteilte, dass Jorina im Bauch vom Mami gestorben ist, waren sie traurig. Später dann haben sie sich vorgestellt, wie ihre Schwester in den Himmel aufgestiegen ist, als «blotti Muus» ganz weit nach oben und wie sie jetzt dort barfuss auf den weichen weissen Wolken tanzt. Die Tränen versiegten. Und nun stürmen sie auf die kleine Jorina zu, geben ihr Schmötzi auf die Stirn, staunen über die kleinen Fingernägeli, die bereits etwas blau angelaufen sind und ziehen ihr die Söckchen aus, um zu schauen, ob auch die Zehennägel schon eine andere Farbe bekommen haben. Zusammen mit den engsten Verwandten und Bekannten besuchen die Woodtlis die kleine Abschiedsfeier, welche von der Spitalseelsorgerin organisiert wurde. Danach ziehen sie sich zurück. Im Geburtshaus Terra Alta werden sie den Rest des Wochenendes betreut und um­sorgt. Dort machen sie ein Fotoshooting mit Jorina. Kolleginnen von Woodtlis haben sich bei www.herzensbilder.ch gemeldet. «Herzensbilder» schenkt professionelle Familienfotografien, dort, wo ein Kind oder Elternteil schwer krank ist oder wo ein Kind zu früh oder still geboren wird. Wo Worte fehlen, können Bilder für sich sprechen – für ihre Zeit und darüber hinaus. Die Familie mit Jorina in ihrer Mitte, die Buben mit ihrer Schwester, die kleine Hand in der Hand der Eltern: Wer den Blick in der Wauwiler Stube schweifen lässt, sieht sofort, wie wertvoll das Foto-Andenken an Jorina für die Familie ist.

Jorinas Händchen. Foto Sheila Lang, Herzensbilder

Die Erde gestreift
Leere im Bauch. Leere im Herzen. Leere im Baby-Wägeli, das in der Stube im Ecken parat steht. Die ersten Wochen zurück zu Hause sind schwierig. Gabriela Woodtli fühlt sich wie im falschen Film. Sie weint oft. Die tröstenden Worte und die kräftige Unterstützung von Bekannten und Verwandten tun gut. In der ersten Zeit kommt die Hebamme ins Wochenbett vorbei. Sie ist für Gabriela Woodtli da in dieser schweren Phase und hilft ihr, die Milch abzustreichen – «die weisse Träne des Körpers». Gabriela Woodtli besucht zudem ein Rückbildungsturnen bei Kindsverlust, welches in Sursee extra für Frauen mit Sternenkindern organisiert wird – «eine unglaublich gute und wichtige Sache». Die Pfarrei Wauwil-Egolzwil lässt die Kirchenglocken für Jorina leuten. Am Aushängekasten vor der Kirche hängt die Trauerinformation: «Es geschieht, dass eine kleine Seele die Erde streift. Ihr Ankommen und Gehen fallen beinahe ins eins.» Jorina Woodtli, * 17. April 2020 – 17. April 2020 †. Zahlreiche Beileidsbekundungen finden den Weg zur Familie. Besonders wohltuend sind die Gespräche mit Menschen, die den Schicksalsschlag Kindstod aus eigener Erfahrung kennen. Die Familie Woodtli merkt: Wir sind nicht alleine. «Das ist meine Motivation, heute darüber zu sprechen», sagt Gabriela Woodtli. Sternenkinder sollen kein Tabuthema sein.

Der Apfelbaum
Jorina wird kremiert. Ihre Asche ruht unweit des Hauses unter einem jungen Apfelbaum, der von Jorinas Götti gepflanzt wurde. Dort hat die Familie mit viel Liebe eine Gedenkstätte für ihr Mädchen errichtet.

Gabriela Woodtli kniet mit Aurel und Cornel vor der Gedenkstätte Jorinas. Foto Chantal Bossard

An der Abschiedsfeier lesen Gabriela und Reto Woodtli ihren Lebenslauf, ihr Gotti singt das Lied vom «Schwösterli» und «Töchterli» im Himmel:

«Mis Schwösterli im Hemmu, wie hani di so gärn. Am Obe wenns dued donkle ond före chond Stärn om Stärn – de suechi mer vo allne de Schönscht ond Heiterscht us. Er stod so lieb ond fröndlech grad öber eusem Huus. Ech luege wie er lüchtet aus sinere höchschte Wacht. De rüefi lislig ufe: Mis Schwösterli guet Nacht, mis Töchterli guet Nacht.»

Gabriela Woodtlis Augen glitzern, als sie die Aufnahme des Liedes abspielt. «Sie hat ausserhalb meines Bauches nicht gelebt, ich weiss, aber ich liebe sie, ich vermisse sie.» Manchmal überwältige sie der Schmerz. «Aber ...», weiter kommt sie nicht. «Maaaaamiiii!» Zwei Blondschöpfe rennen lärmend durch die Stube. Cornel stolpert über die eigenen kleinen Füsse, landet mit ausgestreckten Strumpfhosenbeinen auf dem Boden, rappelt sich wieder auf und rennt lachend in Gabriela Woodtlis Arme. «... aber im Schmerz versinken kann ich nicht», beendet sie den Satz. Das Leben geht weiter, dafür sorgen Aurel und Cornel. Lautstark. Und Jorina? «Sie ist auch da.» Im Himmel. Im Herzen. Unvergessen.
 

Chantal Bossard

Das Geburtstäfelchen von Jorina hängt an der Scheunenwand. Foto Chantal Bossard

 

Das Dankeschön: Die Familie Woodtli richtet an dieser Stelle ihren Dank an folgende Institutionen und Personen: das Luzerner Kantonsspital Sursee, das Geburtshaus Terra Alta (besonders die Hebammen Renate Ruckstuhl und Maja Hiltbrunner), die Pfarrei Wauwil-Egolzwil (besonders die Seelsorgerin Doris Zemp), den Verein Herzensbilder herzensbilder.ch (Sheila Lang), Egli Bestattungen Sursee, Alice Schmid (Leiterin Rückbildungsturnen bei Kindsverlust www.raum-cura.ch) und an alle Verwandten, Freunde und Bekannte, welche im letzten Frühling ihre Herzen für sie so weit öffneten, sie trugen, begleiteten, unterstützten – und es heute noch immer tun.

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«Nichts ist schlimmer, als zu schweigen»

KINDSVERLUST Das Kind stirbt. Was nun? Antworten und Unterstützung erhalten Betroffene von der Fachstelle «kindsverlust.ch.» Der WB hat sich mit der Leiterin Anna Margareta Neff Seitz unterhalten.

Ann Margareta Neff Seitz. Foto zvg

Anna Margareta Neff, Sie sind sowohl Hebamme als auch Trauerfachfrau. Geburt und Tod.
Ja, man könnte meinen, diese zwei Aspekte liegen weit auseinander. Leider ist das nicht immer der Fall. Schätzungen gehen davon aus, dass in der Schweiz jährlich rund 20 000 Kinder in der ersten Schwangerschaftshälfte sterben. In der zweiten Schwangerschaftshälfte bis im ersten Lebensmonat nach der Geburt sind es um die 700 Kinder pro Jahr – das sind pro Tag zwei Familien.

In beiden Fällen können sich betroffene Familien an die Fachstelle «kindsverlust.ch» wenden. Was können sie erwarten?
Unser Ziel ist es, dass alle Familien beim Tod eines Kindes während Schwangerschaft, Geburt oder erster Lebenszeit eine kompetente und nachhaltige Betreuung erhalten, sodass sie einen annehmbaren Weg zum Weiterleben gehen können. So bieten wir beispielsweise für Familien kostenlose Beratung per Telefon oder E-Mail an.

Können die jeweiligen Fachpersonen – vom Gynäkologe bis hin zur Hebamme – hierbei den Eltern nicht helfen?
Teilweise schon. Doch es kann vorkommen, dass sie mit einer solchen Situation selber überfordert sind. Im Schock ergreifen sie dann Massnahmen, um die Krise möglichst rasch zu beenden. Sie leiten beispielsweise sofort die Geburt ein und arbeiten die Liste mit allen Möglichkeiten – von Familienfotos bis hin zur Beerdigung – ab. Das ist zwar gut gemeint, doch alles andere als nachhaltig. Denn: Ist das Kind tot, gibt es keinen Zeitdruck mehr. Entsprechend soll der Familie Raum gegeben werden. Damit sie erst mal realisieren, was passiert ist. Und so in dieser gros­sen Erschütterung wieder bei sich selber und ihrem Kind ankommen können und aus dieser Anbindung heraus für sich einen Weg zum Weiterleben finden. Damit künftig alle Fachpersonen der involvierten Berufsgruppen befähigt sind, wie sie mit solchen Situationen umgehen können, bilden wir sie weiter und vernetzen sie.

Genügend Zeit: Ist es also das, was Eltern nach einem solchen Schicksalsschlag brauchen?
Ja. Jeder Mensch trauert anders, doch alle brauchen Zeit. Das Kind lebt zwar nicht mehr, doch die Vorstellung einer gemeinsamen Zukunft ist noch da. Sich davon zu verabschieden, ist ein langer Prozess.

Was hilft bei diesem Prozess?
Wenn die gemeinsame Zukunft nicht mehr in Aussicht ist, kann es hilfreich sein, eine gemeinsame Vergangenheit zu schaffen. Heisst: sich als Eltern erfahren. Das Kind nach der Geburt anschauen, in die Arme schliessen, waschen, anziehen. Berühren und begreifen. Dem Kind einen Namen geben. Es allenfalls mit nach Hause nehmen. Man sollte zudem keine Hemmungen haben, die Verwandten und Bekannten miteinzubeziehen. Denn so bekommt das Kind auch bei ihnen ein Gesicht, der Schmerz der Familie wird greifbar und verständlich. Das macht es einfacher, künftig darüber zu sprechen und Geschehenes zu verarbeiten – für die Eltern wie auch für das Umfeld. Nichts ist schlimmer, als einfach zu schweigen und so zu tun, als wäre nie ein Kind da gewesen. Das gilt auch für das Umfeld. Viele sind hilflos, wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Sie haben Angst, die falschen Worte zu benutzen. Hilfreich ist es, wenn Angehörige sich von dem leiten lassen, was sie berührt, etwa sagen: «Ich bin gerade sprachlos, weiss nicht, was sagen» oder «Es macht mich so traurig».

Wie soll das Umfeld im besten Fall auf den Schicksalsschlag Kindsverlust reagieren?
Es bietet Hilfe an – oder hilft aktiv mit. Denn wer sein Kind verloren hat, ist häufig nicht in der Lage zu sagen, was er braucht – manchmal über längere Zeit hinweg nicht. Am besten ist es also, wenn man unaufgefordert Blumen, einen Zopf, einen lieben Brief vorbeibringt. Oder anbietet, für einen Besuch vorbeizukommen. Und dann das Thema auch direkt anspricht. Zuhört – auch wenn es die gleiche Geschichte zum hundertsten Mal ist. Denn die Eltern wollen ihr Kind nicht Vergangenheit werden lassen. Fotos, Videos und Geschichten aus der gemeinsamen Zeit helfen das Kind immer wieder lebendig werden zu lassen. Trauernde Eltern werden immer einen Raum suchen, wo sie von ihrem verstorbenen Kind erzählen können. Gebt ihnen diesen Raum, fragt nach, denkt an den Geburtstag des Kindes. «kindsverlust.ch» hat auf der Website einen Leitfaden für Angehörige aufgeschaltet, der noch mehr solche Umgangstipps aufführt (www.kindsverlust.ch/informationen/fuer-angehoerige/). Doch zusammengefasst kann man sagen: Nehmt euch die Kinder als Vorbild.

Wie meinen Sie das?
Das Beispiel der Familie Woodtli zeigt das sehr gut. Aurel und Cornel sind aktiv auf ihr Schwesterchen zugegangen, hatten keine Berührungsängste und haben ihren Tod wie selbstverständlich akzeptiert. Und trotzdem fragen sie noch heute nach Jorina, sprechen von ihr und haben sie als ihre Schwester, als fester Bestandteil der Vergangenheit akzeptiert. Kinder kennen kein Tabuthema.

Sind Sternenkinder denn gesellschaftlich noch ein Tabu?
Es hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan in dem Bereich. Der Fakt, dass Kinder wie Jorina früher einfach im Spitalabfall entsorgt wurden, spricht für sich. Doch noch immer herrscht eine Unbeholfenheit dem Thema gegenüber. Das ist verständlich. Ein Kind, das so früh stirbt, wird wohl immer etwas bleiben, was sich nicht mit unserer Vorstellung von Geburt – Leben –Tod vereinbaren lässt. Und doch bin ich davon überzeugt, dass es hilft, die Gesellschaft über das Sterben von Kindern während der Schwangerschaft, Geburt und erster Lebenszeit und den Umgang damit zu sensibilisieren. Das ist ein weiteres Standbein unserer Fachstelle: die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und uns dafür auch in der Politik einzusetzen.

Was muss Ihrer Meinung in dem Bereich noch getan werden?
Eine Frau in der Schweiz gilt rechtlich erst ab der 13. Schwangerschaftswoche als schwanger. Vorher wird sie im Fall vom Komplikationen als «krank» betitelt. Das ist unglaublich frauenfeindlich! Denn der Gesetzgeber zementiert damit eine gesellschaftliche Haltung, dass eine schwangere Frau in den ersten 12 Wochen nicht Mutter wird und dass es sich nicht um ein Kind handelt, sondern um eine Krankheit. Und es geht noch weiter: Die Kosten, die eine frühe Fehlgeburt verursacht, muss die Frau mit ihrer Franchise bezahlen, zudem bleibt ein Selbstbehalt hängen. Sie bekommt also noch eine Rechnung für den Verlust ihres Kindes. Wir hoffen sehr, dass die Politik diesen Missstand endlich anerkennt. Wir machen uns stark dafür. Chantal Bossard

Chantal Bossard

«kindsverlust.ch» ist eine unabhängige, spenden­finanzierte Non-Profit-Organisation. Kostenlose Beratung für betroffene Eltern und begleitende Fachpersonen: Tel. 031 333 33 60. E-Mail: [email protected]; www.kindsverlust.ch.

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