Mit wachem Geist ins 101. Lebensjahr

Verglichen mit vielen anderen Männern und Frauen, die im «Willisauer Bote» in der Serie «Im Herbst des Lebens» auf ein langes Leben zurückgeschaut haben, sollte man diesen Bericht vielleicht mit «Im Winter des Lebens» betiteln: Margrit Lütolf feierte vor kurzem ihr 100. Wiegenfest.

Man sieht es ihr nicht an: Vor Kurzem konnte Margrit Lütolf ihren 100. Geburtstag feiern. Foto Adelheid Aregger
Stefan Bossart

Die aufgestellte Dame aus Wikon, die seit zwei Jahren im Alters- und Pflegezentrum Feldheim in Reiden lebt, zeigt wenige Spuren des hohen Alters. Aber das schneeweisse Haar deutet auf den Winter hin. Sie ist zwar mit dem Rollator unterwegs wie viele Mitbewohner, die Jahrzehnte jünger sind als sie. Aber viele von ihnen müssten fast ein wenig neidisch werden, wenn sie hören, was die Hundertjährige von gestern, vorgestern und heute im Gedächtnis hat: die abwechslungsreiche Geschichte eines langen Lebens, das von schweren Schicksalsschlägen verschont geblieben ist – mit Ausnahme vom Tod des Ehemannes vor einundvierzig Jahren und des Schwiegersohns 1977.

«Das Glück wird dir in die Wiege gelegt»

Margrit Lütolf hätte wohl noch lange mit dem Umzug ins Heim gewartet, wenn der grosse Garten rings um ihr Haus an der Bahnhofstrasse in Wikon nicht gewesen wäre. Schweren Herzens entschloss sie sich zum Verkauf und hat es bis heute grundsätzlich nicht bereut. Ihr sind die Erinnerungen geblieben und die Beziehungen zu den vielen Bekannten und Freunden, die noch öfter im «Feldheim» ein- und ausgehen würden. Wenn … wenn da nicht Corona wäre. Margrit Lütolf lässt den Kopf trotzdem nicht hängen. Auch ohne ein grosses Fest war ihr Geburtstag ein Aufsteller: mit Besuchen, Geschenken und Gesprächen über Gott und die Welt. Noch Tage nachher beleben Blumen das Zimmer, schön geschriebene und geschmückte Glückwunschkarten: wie sie sie selber zu Hunderten verfasst hat. Nicht nur als Gratulation für ihre eigenen Verwandten und Bekannten, sondern oft im Auftrag jener Personen, die selber nicht so schreib- und bildgewandt sind. Zum Beispiel das schön dekorierte Pergamentblatt mit dem Gedicht «Was ist Glück?» in Zierschrift, die sie sich selber beigebracht, und in Versen, die sie selber gedichtet hat: «Das Glück wird dir in die Wiege gelegt, und oft es dein ganzes Leben durchweht. Man kann es nicht kaufen und nicht pachten, doch ist es im Leben nicht zu verachten». Viele Freunde und auch Unbekannte hat sie damit beglückt und in deren Auftrag fremden Personen oft auch Trost oder Aufmunterung gebracht.

Es scheint, als ob die Jubilarin damit ihr eigenes Leben beschreibt, das 1920 bei den Grosseltern im Wirtshaus in der Brittnauer Rossweid begonnen und das für sie bis 2018 an der Bahnhofstras­se in Wikon gedauert hat. Dort hatten die Imprägnierwerke Brittnau-Wikon ihrem Vater Adolf Meier das Haus mit Garten verkauft, von dort aus besuchte Margrit Meier die Primarschule in Wikon, später die Bezirksschule Brittnau und lernte dann – als Ersatz für die versprochene und widerrufene KV-Lehre in der Maschinenfabrik Reiden – Verkäuferin in einem Herrenmodegeschäft in Olten, wo sie auch die Gewerbeschule besuchte. «Wir hatten fast nur italienische Kundschaft», erzählt sie, «mit einem grossen Angebot an Töff-Bekleidung, was für mich etwas genierlich war, wenn ich das Mass für unsere Kunstlederhosen nehmen musste. Aber ich lernte ausser dem Beruflichen in Geschäft und Schule die italienische Sprache.» Zuvor hatte sie im Haushaltlehrjahr in Lausanne Französisch gelernt, vervollkommnet an Abendkursen der Ecole de Commerce.

Via Veto zur Heimarbeit

Unvergessen sind für die Hundertjährige die Berufsjahre im Zofinger Warenhaus von Felbert, wo sie hauptsächlich im ersten Stock bei Geschirr, Teppichen und Vorhängen tätig war – mit einem Lohn von ursprünglich zehn bis zuletzt vor der Heirat 1944 zweihundertzwanzig Franken. Vor allem ein Ereignis hat diese Zeit geprägt: Das Familiendrama des Patrons: «Zusammen mit zwei Töchtern und dem Sohn ertrank er in einem Bottich voller Wasch­lauge.»

Die Hochzeit mit Armin Lütolf führte das Ehepaar nach Reiden, wo es im Haus von Kirchmeier Anton Zwinggi seine erste Wohnung bezog. «Ich machte dann Heimarbeit für die Garnfabrik Wettstein und die Schuhfabrik Rieker», erinnert sich die Jubilarin, «viel Flechtarbeiten für die Schuhe, alles von Hand. Der Arbeitsplatz war praktisch, weil wir neben der Fabrik gewohnt haben.» Heimarbeit war für die junge Ehefrau der Lebensinhalt neben der Familie, auch als die Tochter zur Welt kam, «ich musste einfach etwas machen.» Sie wäre als junges Mädchen gern Handarbeitslehrerin geworden – wenn der Vater es gestattet hätte. «Du heiratest ja doch einmal!», hatte er sein Veto begründet und schon nicht zugestimmt, als die Tochter die Aufnahmeprüfung in Luzern machen wollte. «Ich habe dann halt gehorcht», erzählt nach fast neunzig Jahren das damals fügsame Mädchen, das die schulischen Voraussetzungen mitgebracht hätte: «Ich hatte fast immer Einser.»

Viele Spuren hinterlassen

Eine Entschädigung für soviel verunmöglichtes Lernen und Lehren fand Margrit Lütolf schon in ihrer Schulzeit, als sie anfing Zierschriften zu lernen und Urkunden zu gestalten. Später brachte ihr Mann viele Aufträge heim, sodass sie sich ein Taschengeld verdienen konnte. Auch für die Gemeinde, für Geburtstage, Taufen und Hochzeiten fertigte sie kunstvolle Dokumente an, die heute noch in vielen Stuben hängen. «Jetzt ist aber Schluss mit Aufträgen», sagt Margrit Lütolf und zeigt einige Duplikate ihrer Arbeit. Von fast jeder Urkunde weiss sie noch die Umstände des Auftrags: Warum? Für wen und von wem? Sehr oft waren die Auftraggeber Verwandte, die zum grossen Teil in der Nähe wohnten, vor allem, als sie nach dem Tod ihrer Eltern das Haus an der Bahnhofstrasse in Wikon übernahm. Dort befand sich auch die mechanische Werkstatt ihres Onkels Armin Meier, und hier gingen Verwandte und Bekannte ein und aus. Zum Beispiel ihre Patin Anna Blum, «von der ich wahrscheinlich das Musische gelernt habe. Sie hat zu Fuss fast die ganze Schweiz durchwandert und darüber getreulich Tagebuch geführt.» Wandern, die Welt und im Gastgewerbe wichtige Persönlichkeiten kennenlernen – das lag in der Familie. Margrits Mutter hatte in Nizza die Kochlehre gemacht. Ihre Eltern waren verwandt mit dem bekannten Direktor Blum vom Kurhaus Richenthal – damals eine berühmte Adresse für Leute, die im Kneipp-Kurhotel Heilung suchten. Später bekochte die Mutter auf Rigi Kulm Königin Beatrice von Holland und zog mit ihrer Arbeitgeber-Familie in ein Hotel in Locarno.

Ei, ei, ei …

«Mich hat das Gastgewerbe nie gereizt», gesteht die Hundertjährige, «und nachdem ein Blitz in die ‹Fenneren› eingeschlagen hat, haben auch meine Eltern den Gastbetrieb mit der kleinen Landwirtschaft aufgegeben.» Aber die Geselligkeit und Aufgaben für die Mitmenschen zu erledigen, schätzt sie, hat sie doch unter anderem während acht Jahren den Katholischen Mütterverein in Reiden und Wikon präsidiert – und hat vielleicht da und dort auch die Geschichte der hundert schwarzen Eier erzählt: «Es war während des Krieges, als ich bei Pfarrer Blum in Uffikon schwarze Eier holen musste – mit einem schlechten Gewissen. Denn die Eier waren natürlich nicht schwarz, sondern wegen der Rationierung verbotenerweise in meinem Korb. Als mich ein Polizist anhielt, schlotterte ich vor Angst, er könnte meine Fracht entdecken. Aber er rügte mich nur, weil ich – es herrschte ein Verdunkelungs-Gebot – das Licht an meinem Velo nicht abgedeckt hatte. So kam ich zu Hause trotzdem glücklich mit den hundert Eiern an, die in Wasserglas eingelegt waren, damit sie drei bis sechs Monate lang frisch blieben.»

 

Adelheid Aregger

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