«Wir freuen uns auf das Abenteuer»

Von Ballwil nach Tallinn. Kommende Woche coacht Thomas Häberli sein erstes Spiel der estnischen Nationalmannschaft. Die WM-Qualifikation ist für das kleine Land zwar utopisch, trotzdem will der ehemalige Angreifer des FC Schötz im baltischen Fussball Spuren hinterlassen. 

Einst stürmte er für den FC Schötz, nun ist Thomas Häberli Trainer der estnischen Fussballnationalmannschaft. Kommende Woche startet er mit dem Team in die WM-Qualifikation. Fotos pd
Patrik Birrer

Thomas Häberli, seit Anfang Jahr sind Sie Nationaltrainer in Estland. Im Januar weilten Sie mit der Mannschaft eine Woche im Trainingslager in Marbella. Welchen Eindruck haben Sie vom Team und den Spielern gewonnen?
Einen guten. Es herrscht eine tolle Arbeitsmoral. Allerdings war es nicht ganz einfach, da die Spieler direkt aus den Ferien kamen. Und es waren nur jene  Spieler da, welche in der heimischen Liga spielen. Es fehlten also noch einige Akteure. Trotzdem war ich froh, einen kurzen Zusammenzug vor dem Start zu den WM-Qualifikationsspielen zu haben.

 

Die wenigsten Schweizer kennen Estland. Bringen Sie uns bitte das Land etwas näher: Welche Eindrücke, abgesehen von sportlichen, konnten Sie bisher gewinnen?
Estland ist ein kleines Land mit 1,3 Millionen Einwohnern. Fast die Hälfte davon wohnt in der Hauptstadt Tallinn. Estnisch ist die Landessprache. Sie ähnelt dem Finnischen, aber mit Englisch kommt man sehr gut durch. Es gibt viel Natur und schöne Orte. Man muss Estland gesehen haben!

 

Was haben Sie selbst denn schon gesehen? Es soll in Estland ja beispielsweise über 2000 Inseln geben.
Ich war schon in einigen Teilen des Landes, aber noch auf keiner Insel. Die sollen aber fantastisch sein. Es gibt viel Wald, schöne und wilde Strände, es kann aber auch sehr kalt werden.

 

Sie planen im Sommer mit Ihrer ganzen Familie nach Tallinn zu ziehen. Wie schwer fiel die Entscheidung, Ballwil zu verlassen, respektive mit welchen Argumenten konnten Sie die Familie von Estland überzeugen?
Als ich Ende 2018 beim FC Basel aufhörte, war mir klar, dass ich neue Arbeitsorte in der Schweiz und vielleicht in Europa finden muss. Wir waren bereit für etwas Neues. Ich war seit 2019 schon mehrmals in Estland tätig und kannte das Land, einige Leute und die Mentalität. Meine Familie hört seit zwei Jahren nur Gutes über Estland. Deshalb zögerten wir nicht und freuen uns auf ein Abenteuer in einem tollen Land.

 

Sie haben ein Büro in Tallinn. Wie muss man sich den Arbeitstag eines Nationalcoaches vorstellen?
Es ist keine Bedingung des Verbandes im Land zu leben. Einige Spieler stehen  im Ausland unter Vertrag. Diese besuche ich regelmässig, wenn es die Corona-Situation zulässt. Die nationale Liga verfolge ich vor Ort oder via TV. Die Saison hat Anfang März begonnen und derzeit weile ich für einige Wochen in Tallinn. In diesem Zeitraum sind auch die Nationalmannschaftsspiele. Ich stehe in regem Austausch mit den Vereinen und mit anderen Verbandstrainern, wir wollen ja auch strukturell etwas bewegen. Sie sehen also: Meine Arbeitstage sind sehr vielfältig und je nach Wettkampfperiode extrem lang und intensiv. Es gibt aber durchaus auch sehr ruhige Zeiten.


 

Ich stehe in regem Austausch mit den Vereinen und mit anderen Verbandstrainern, wir wollen ja auch strukturell etwas bewegen.
Thomas Häberli
Nationaltrainer Estlands

 

Wie beurteilen Sie das Niveau der estnischen Liga im Vergleich zu jener in der Schweiz? Können Sie einschätzen, in welcher Liga Serienmeister Flora Tallinn in der Schweiz spielen würde?
Das Niveau der Mannschaften in Estland ist sehr unterschiedlich. Die besten drei, vier Teams könnten sicherlich in der Challenge League mithalten, Flora vielleicht sogar in der Super League. Mit Blick auf die Nationalmannschaft sind wir aber dringend auf Spieler angewiesen, die im Ausland engagiert sind und sich somit auf einem höheren Niveau bewegen.

 

Was fehlt dem estnischen Fussball, um auf ein höheres Niveau zu kommen?
Es braucht ganz allgemein mehr Möglichkeiten, um Fussball zu spielen. Eine Dichte an Hallen wie in Skandinavien wäre natürlich top. Ausserdem benötigen wir eine flächendeckende, gute Juniorenausbildung. Im Moment ist Flora Tallinn diesbezüglich der klare Vorreiter. Die Bemühungen des Verbandes und der Liga sind da, aber es braucht Zeit und eben auch Geld.

 

Über die Hälfte Ihrer Spieler sind bei Flora Tallinn engagiert. Da liegt es nahe, dass Sie die Spiele dieses Teams besuchen. Aber reisen Sie auch nach Schweden oder Dänemark, wo ebenfalls estnische Nationalspieler unter Vertrag stehen?
Das ist meine Absicht und steht auch so in meinem Aufgabenheft. Im Moment muss das aber über das Telefon laufen, da ich natürlich die Corona-Situation berücksichtigen muss.

 

Ihr Engagement in Estland kam durch Ihre Bekanntschaft mit dem estnischen Verbandspräsidenten Aivar Pohlak zustande. Wie gross war Ihr Erstaunen, als er Sie für den Job des Nationaltrainers anfragte?
Ich kenne Aivar seit Anfang 2019 und hatte bereits Coaching- und Consultingaufträge für den Verband, aber auch für Flora Tallinn ausgeführt. Er kannte somit meine Arbeitsweise. Ich war einer der Trainerkandidaten und konnte mich durchsetzen. Das hat mich natürlich sehr gefreut.

 

Sie haben einst eine Studienarbeit mit dem Titel «Coach the Coach» verfasst. Darin geht es darum, wie man einen Trainer besser machen kann. Inwiefern hat sich der Trainer Thomas -Häberli seit seinem Engagement beim FC Luzern verbessert, respektive welche Lehren hat er daraus gezogen?
Bei der angesprochenen Arbeit war «Coach the coach» nur ein Aspekt des Ganzen. Der grösste Teil drehte sich um den gewinnbringenden Einsatz von Coaching im Fussball. Luzern war eine schöne Erfahrung. Ich habe viele tolle Menschen kennengelernt und bin froh, dass einige Sachen ins Rollen gekommen sind. Ich glaube, einige Menschen konnten von mir etwas lernen und ich von ihnen. Somit war es eine gute Sache.

 

Obwohl Estland aktuell nur die Nummer 108 der Weltrangliste ist und internationale Erfolge bisher ausblieben, ist Fussball sehr beliebt im Land. Wie haben Sie das Medienecho, die Reaktionen der Menschen vor Ort erlebt, als Sie als Nationalcoach angekündigt wurden?
Ich hatte einige Medientermine. Jetzt geht es aber dann erst richtig los, da die offiziellen Nationalmannschaftsspiele anstehen.


 

Ich glaube, einige Menschen konnten von mir etwas lernen und ich von ihnen. Somit war es eine gute Sache.
Thomas Häberli
über sein Engagement beim FC Luzern

 

Spüren Sie in der Öffentlichkeit den Wunsch oder gar Druck, dass man die Nati mehr siegen sehen und Erfolge feiern will?
Jede Nation will Siege der Nationalmannschaft sehen. Für uns ist das in der Nations League sicher einfacher, da die Gegner in etwa auf dem gleichen Niveau spielen. Leider müssen wir im Frühling 2022 Entscheidungsspiele um den Verbleib in der Gruppe C bestreiten, da letztes Jahr kein einziges Spiel gewonnen werden konnte. Dieses Jahr steht die Qualifikation für die WM 2022 in Katar im Fokus. Wir sind als Team aus dem fünften Topf in eine Fünfergruppe gelost worden, treffen also ausschliesslich auf nominell stärkere Mannschaften. Die Favoriten sind wir in keinem Spiel, aber trotzdem wollen und können wir Partien gewinnen.

 

Ein Testspiel konnten Sie mit der Mannschaft noch nicht bestreiten. Das heisst, in der ersten Partie am kommenden Mittwoch gilt es gleich ernst. Estland empfängt als grosser Aussenseiter Tschechien. Was werden Sie dem Team für diese schwierige Aufgabe mit auf den Weg geben?
Wir müssen uns auf unsere eigenen Stärken berufen, als Team agieren und unsere Chancen nutzen. Im Sport ist immer alles möglich.

 

Neben Tschechien spielen Sie gegen Belgien, Wales und Belarus. Realistisch betrachtet, liegt ein Punkt-gewinn wohl nur gegen Belarus (Weltrangliste Nummer 88) drin. Oder beurteilen Sie die Ausgangslage in der Qualifikationsgruppe E anders?
Nein, das stimmt so. Alles andere als der letzte Platz in dieser Gruppe wäre ein grosser Erfolg. Wir werden sehen.

 

Sie haben in Estland einen Zweijahresvertrag unterschrieben. Wenn Sie eines Tages die estnische Nati verlassen, was wünschen Sie sich, dass man nach Ihrem Abschied rückblickend sagen wird?
Ich werde dem estnischen Fussball sicherlich einiges mitgeben können. Beide Seiten werden voneinander profitieren können.

 

Jonathan Furrer
 

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