Der Krimi-Liebhaber geht in den Ruhestand

Nach fast 30 Jahren richterlicher Tätigkeit geht Ivo Stöckli in Pension. Statt Straffälle zu beurteilen, greift der Präsident am Bezirksgericht Willisau in Zukunft wieder vermehrt zu einem guten Krimi, schnürt die Wanderschuhe oder geniesst die Zeit in der Ferienwohnung in Emmetten.

Ivo Stöckli: Statt im Zivilgesetzbuch blättert er künftig lieber in einem guten Krimi. Foto Stephan Weber
Stephan Weber

Nein, den Eindruck eines baldigen Rentners macht Ivo Stöckli nicht. «Ich fühle mich gut», sagt er an diesem schönen Wintermontagmorgen. Gesund ist seine Hautfarbe, wach sein Blick. Am letzten Freitag hatte er seinen allerletzten Arbeitstag, zog die Ferientage ein, die ihm noch zustehen. Nach fast 30 Jahren wird der 65-Jährige per 1. März das Präsidium der Abteilung 3 des Bezirksgerichts Willisau an seine Nachfolgerin Stephanie Züllig, ehemalige Gerichtsschreiberin und nun Bezirksrichterin, übergeben.

Der Abschied fällt ihm nicht leicht, das spürt man. «Wir hatten hier in Willisau ein fantastisches Team und untereinander ein sehr kollegiales Verhältnis. Die Arbeitskolleginnen und -kollegen und auch die Arbeit werden mir fehlen. Aber alles hat ein Ende, das ist gut so.»

Kampfwahl gegen Arbeitskollege
Blicken wir ein paar Jahre zurück. Ivo Stöckli wird am 14. Februar 1957 in Luzern geboren. Die Familie zügelt nach Sursee, dort besucht er die obligatorischen Schulen, ehe er an der Klosterschule Engelberg die Matura absolviert. Es folgt das Rechtsstudium in Freiburg, verschiedene Praktika.  1983 besteht er das Anwaltspatent. Am 1. Januar 1985 beginnt er Teilzeit als Gerichtsschreiber am Amtsgericht in Luzern. Daneben schreibt er seine Dissertation «Die Pflichten des Vormundes bei der Übernahme seines Amtes». Acht Jahre später wird er zum Präsidenten am damaligen Amtsgericht Willisau gewählt – in einer Kampfwahl gegen Franz Kurmann, damaliger Amtsstatthalter, Partei- und Arbeitskollege. «Das war keine einfache Situation für beide», erzählt Krimi-Liebhaber und Wanderfreund Stöckli.

Vergleiche statt Entscheide
Als erstinstanzlicher Richter beurteilt er Straffälle und Zivilstreitigkeiten. Seine Schwerpunkte sind das Familien– und das Strafrecht. Dort geht es um Fälle, in der sich Paare scheiden lassen, Personen eine Straftat begangen haben oder um fürsorgerische Unterbringungen. Seine Aufgabe habe er darin gesehen, Konflikte so zu lösen, dass beide Parteien später einigermassen wieder miteinander funktionieren. Vergleiche, also wenn es zwischen den Parteien zu einvernehmlichen Lösungen kommt, bezeichnet er als Höhepunkte seiner langjährigen Tätigkeit. «Ich suchte immer das Verbindende, nicht das Trennende. Denn selbst bei schwersten Kampfscheidungen gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Parteien.»

«Man muss Menschen mögen»
Stöckli interessierte sich für die Menschen, sagt jemand, der ihn kennt. Sein Credo in all den Jahren? «MMMM». Er klärt über die Abkürzung auf: «Man muss Menschen mögen.» Dieses Bonmot, es wird Alt Bundesrat Adolf Ogi zugeschrieben, habe er versucht zu befolgen. In seinem Amt brauche es Menschenkenntnisse, viel Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen. Die Vielfalt der Charaktere und die Nähe zu den Menschen waren es denn auch, die für Stöckli die Freude am Amt ausmachten. «Der Umgang mit Menschen und ihren verschiedenen Schicksalen haben mich immer beeindruckt.» Hochspannend sei es, nicht zu wissen, wie die Verhandlung laufen wird, herauszufinden wie die Parteien sich verhalten. «Ich kenne die Menschen vor einer Verhandlung nicht. Ich weiss nicht, wie sie ticken, wie sie sich verhalten. Das war fordernd und interessant.»

«Hier hinten ist es eng»
An seinen ersten Fall als damaliger Amtsgerichtspräsident kann sich Ivo Stöckli nicht mehr erinnern. Bei der Frage nach seinem lustigsten Fall wird es Sekundenbruchteile lang ruhig. Natürlich wüsste er etwas zu erzählen, verrät er. Er lässt es bleiben, bittet um Verständnis. «Wissen Sie, das Einzugsgebiet ist klein, hier hinten ist es eng. Es braucht nicht viel und rasch liesse sich herausfinden, wer in den Fall verwickelt gewesen ist. Das will ich nicht.» «Aber», so erzählt er es dann doch, «wir haben während den Gerichtsverhandlungen immer mal wieder geschmunzelt und gelacht.»

Er konnte gut abschalten
Nichtsdestotrotz. Nicht immer war ihm zum Lachen zumute. Mit schwierigen bis schwierigsten Leuten war er konfrontiert. Beeinflussungsversuche habe er so gut wie kaum erlebt, Drohungen aber schon. «Das gehört offensichtlich zum Job». Fiel ihm das Abschalten einfach, wenn er mit belastenden Fällen zu tun hatte? «Ja, zum Glück», antwortet er. «Sobald ich die Bürotür hinter mir geschlossen habe, blieben die Gedanken dort, wo sie hingehörten: an den Arbeitsplatz.» Die fremden Probleme solle man nicht zu den eigenen Problemen machen, habe er sich gesagt.

Einschneidende Veränderungen
Ein grosser und wichtiger Einschnitt im Arbeitsleben von Ivo Stöckli war die Justizreform, die per 1. Januar 2011 in Kraft trat. Dabei wurden die Anzahl Friedensrichter reduziert, die bisherigen sechs Amtsgerichte in vier Bezirksgerichte überführt und unbenannt: Aus den Amtsgerichten wurden die Bezirksgerichte. Und: Aus den drei Amtsgerichtskreisen Entlebuch, Sursee und Willisau wurde der Gerichtsbezirk Willisau. Diese Entscheidung sorgte damals für Diskussionen. So teilte der Stadtrat von Sursee in einem Brief an den Regierungsrat mit, was er von den Plänen von einem Gerichtsstandort Willisau hielt: nichts. Zudem störte sich die SVP Amt Entlebuch an den Plänen zur neuen Wahlkreiseinteilung.

«Die neuen Strukturen haben sich aber rasch bewährt», sagt Ivo Stöckli rückblickend. Ebenso der Fakt, dass die erstinstanzlichen Richter vom Parlament und nicht mehr vom Volk gewählt wurden. «Heutige, jüngere Juristen wissen das teilweise gar nicht mehr.»

Respekt des Richterberufs
Und sonst, wie hat sich der Beruf in all den Jahren für Ivo Stöckli verändert? Insgesamt hätten die Fälle zugenommen, sie seien komplexer geworden. Auch sei früher der Respekt gegenüber einer Richterin oder eines Richters grös­ser gewesen, sagt der Rechtsgelehrte. Heute werde der Urteilsspruch eines Juristen und damit auch dessen Autorität rascher hinterfragt. Werten will der Mann aus der Sonnrüti diese Veränderung nicht. «Das ist die gesellschaftliche Entwicklung, die vor der Justiz nicht Halt macht. Richterinnen und Richter sind Teil unserer Gesellschaft.»

«Bodenhaftung nicht verlieren»
Weiteres hat sich gewandelt in all den Jahren: Verschiedene Rechtsgebiete wurden revidiert. Die Leute seien heute besser über ihre Rechte informiert und nehmen diese auch mehr wahr als früher. Das sei eine gute Entwicklung, so Stöckli. Es gebe aber auch Tendenzen, die ihm Sorgen machen. Die Rolle der Justiz etwa. «Wir Richter dürfen nicht abheben und müssen uns ständig hinterfragen, für wen wir beispielsweise Urteilsbegründungen machen. Wir schreiben diese für die einfache Frau oder den einfachen Mann und nicht für Leute, die am Bundesgericht arbeiten.» Wenn die Justiz die Bodenhaftung verliere, schwinde der Rückhalt in der Bevölkerung.

Auch beschäftigt Ivo Stöckli, dass sich Prozesse je länger, je mehr nur noch die Reichen oder die Armen leisten können. Die Reichen, weil sie über genügend finanzielle Mittel verfügen, die Armen, weil ihnen die unentgeltliche Prozessführung gewährt wird. Prozesse kosten laut Stöckli rasch zehntausende Franken. Ein Betrag, den sich der Mittelstand heute kaum mehr leisten könne. «Aus rechtsstaatlicher Sicht ist diese Entwicklung nicht gut».

«Öppis im Tue»
Und jetzt, als Pensionierter: Welches Kapitel schlägt er nun auf? «Zu allererst werde ich mal eine Zeit lang ausspannen», sagt er und lacht. Dann werde er mehr Zeit haben, um zu lesen, zu wandern und das Leben zusammen mit seiner Frau in ihrer Ferienwohnung in Emmetten zu geniessen. Dazu sei «öppis im Tue», sagt er geheimnisvoll, winkt ab, als der Schreibende seinen fragenden Blick aufsetzt und antwortet: «Sorry, das kann ich noch nicht verraten, das ist noch nicht spruchreif.» Klar sei: Als Anwalt im Ruhestand werde er garantiert nie vor Gericht auftreten. «Den Gerichtssaal habe ich zur Genüge gesehen.»

Stephan Weber

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