"Unser Name ist nicht mehr zeitgemäss"

Die Stiftung für Schwerbehinderte Luzern (SSBL) wird heuer 50 Jahre alt. Geleitet wird sie vom Egolzwiler Pius Bernet. Im WB-Gespräch äussert sich der einstige «Finanzchef des Jahres» zu seiner sozialen Ader, der Pandemie und zu Anekdoten mit Klientinnen und Klienten.

Pius Bernet leitet die Geschicke der Stiftung für Schwerbehinderte Luzern (SSBL) in Rathausen seit 2018. Foto swe
Stephan Weber

Vor 50 Jahren wurde die Stiftung für Schwerbehinderte Luzern gegründet. Was bedeutet Ihnen dieses Jubiläum?
Das Jubiläum ist eine grosse Chance und einmalige Gelegenheit, die Leistungen und die Kreativität unserer Klientinnen und Klienten und der Mitarbeitenden einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Dazu wollen wir das Jubiläum nutzen, um die SSBL einem breiten Publikum noch bekannter zu machen. Wir wollen zeigen, was wir machen. Das war mitunter ein Grund, warum wir Mitte November einen Webshop (www.geschenkshopssbl.ch) lanciert haben, wo die selbstgemachten Produkte unserer Bewohnerinnen und Bewohner verkauft werden.

Zum 50-Jahr-Jubiläum haben diverse Festivitäten stattgefunden. Warum gab es nicht ein einziges, grosses Fest?
Weil die Bewohner bei den Festivitäten im Zentrum stehen. Sie sollen auch fünf Jahren später noch von diesem Anlass erzählen. Das bedingt, dass wir «bewohnergerechte» Feste feiern. Am einfachsten geht das im kleinen Rahmen. So kann das Kader, die lokale Prominenz viel besser mit den Angehörigen in einen Dialog treten und einen Austausch in ungezwungener Atmosphäre pflegen.

Inwiefern hat die Pandemie die Festivitäten erschwert?
Wir waren teilweise gezwungen die Anlässe zu splitten und die Bewohner aufzuteilen. Zudem haben wir einige Anlässe vorsorglich auf das zweite Semester verschoben. Dieser Entscheid hat sich bewährt, die meisten Anlässe konnten stattfinden. Leider mussten wir den Firmenausflug und ein Bewohnerfest ins nächste Jahr verschieben.

Am Freitag, 3. Dezember, wird die Kirche auf Rathausen den Bewohnerinnen und Bewohnern zur Nutzung übergeben. Das dürfte eine grosse Sache sein.
Ja, das ist ein absoluter Höhepunkt. Dann wird den Klientinnen und Klienten die neu renovierte Kirche als Atelierraum, als Kino, Theater oder Singsaal übergeben. Das ist für mich das wichtigste Fest überhaupt, weil wir dann endlich über eine Aula in Rathausen verfügen.

Was sagt der Bischof dazu, dass in der Kirche Kinofilme geschaut statt Gebete gesprochen werden?
(Lacht). Den bischöflichen Segen haben wir. Wir sollen einfach christlich bleiben, hat er uns mit auf den Weg gegeben.

Weg vom Jubiläum, hin zum Tagesgeschäft. Sie sind seit Juli 2018 Geschäftsführer bei der SSBL. War es ein guter Entscheid, die Geschicke der Stiftung übernommen zu haben?
Bereut habe ich diesen Schritt nie. Ich spüre eine grosse Dankbarkeit und Motivation – in der Geschäftsleitung und im Stiftungsrat. Es ist wie ein Ping-Pong-Spiel, wo man sich gegenseitig die Bälle zuspielt, Ideen aufgreift, aufeinander zugeht. Es ist ein Miteinander statt Gegeneinander. In der Privatwirtschaft hat man früher doch eher den Ellbogen rausgefahren.  

Wie führen Sie die SSBL?
Wichtig sind klare Zielvorgaben. Ich will die Mitarbeitenden mit ins Boot nehmen. Sie sollen wissen, was ansteht und was wie erreicht werden soll. Zudem habe ich einen möglichst hohen «Erledigungsdrang». Da muss ich mich als Geschäftsführer manchmal etwas zurücknehmen.

Mit anderen Worten: Sie sind ungeduldig.
Sagen wir es so: Ich habe die Arbeiten von Natur aus gerne erledigt. Vielleicht hat das mit meinen früheren Tätigkeiten zu tun: Finänzler sind in der Mehrheit aus diesem Holz geschnitzt.
Sie haben es erwähnt: Sie haben jahrelang als Finanzspezialist gearbeitet, einst wurden sie gar als bester Finanzchef der Schweiz ausgezeichnet. Wo haben Sie eine «soziale Ader?»
Ich habe schon als Fünftklässler mit meinen Mitministranten Sternsingen für Kinder in Afrika organisiert. Zudem engagierte ich mich in der Jugendarbeit. Als Finanzchef war ich weltweit tätig, sah viel unverschuldetes Elend. Das führte mich zum bewussten Entscheid, die Privatwirtschaft zu verlassen und einen Branchenwechsel in eine soziale Einrichtung zu vollziehen.

Was waren die prägendsten Momente seit Stellenantritt?
Mir ist «Management-by-walking around» wichtig. Heisst: Ich besuche gerne die Wohngruppen, gehe vorbei auf einen Schwatz, bringe ein Guetzli. So spüre ich vor Ort, wie die Stimmung ist, was die Mitarbeitenden, die Klienten oder Bewohner bewegt. So gibt es auch immer wieder lustige Anekdoten, die meinen Arbeitsalltag prägen und ihn unvergesslich machen.

Erzählen Sie.
Vor einiger Zeit haben wir unsere Firmenautos mit den Worten «Wir sind unterwegs für Menschen mit Behinderung» beschriftet. Einer der Klienten hat mich beim Besuch zu sich gewunken und mir gesagt, er würde nicht in dieses Auto steigen. Er sei ja nicht behindert.  

Ein Hinweis, dass ihr Firmenname nicht mehr zeitgemäss ist?
Genau. Angehörige, Fachorganisationen  und die Klientinnen und Klienten selber empfinden das Wort «behindert» als stossend und abwertend. Aus diesem Grund haben wir auch einen Prozess gestartet, um uns mit unserem Firmennamen zu befassen. Bereits jetzt lässt sich sagen: Ende 2022 wird die Stiftung über den zukünftigen Namen entschieden haben.  

Was sind in diesen Coronazeiten die grössten Herausforderungen der SSBL?
Die Sorge, dass jemand so stark an Corona erkrankt, dass er daran stirbt. Diese Angst habe ich tagtäglich. Damit muss ich lernen umzugehen. Die zweite Sorge: Genügend Fachpersonal zu haben, um die Klientinnen und Klienten zu betreuen und sie nicht selber wegen Corona ausfallen.  

Wie stark tangiert ist die SSBL mit Coronafällen?
Wir hatten zum Glück bis dato keine Todesfälle bei Mitarbeitenden und Klient
en. Bei uns sind 75 Prozent der Mitarbeitenden geimpft und 85 Prozent der Klientinnen und Klienten. Grosse Hoffnung hegen wir in die Booster-Impfung, die wir noch vor Weihnachten starten wollen.

Wie gehen die Bewohnerinnen und Bewohner mit den Einschränkungen wegen Corona um?
Unterschiedlich – je nach kognitiver Einschränkung. Gewaltvorfälle, dazu zählen wir auch laute Äusserungen gegenüber dem Personal, haben während der Pandemie nur leicht zugenommen. Im Grossen und Ganzen haben die Bewohner die Situation bisher sehr gut gemeistert. Einige haben die «Entschleunigung «sogar genossen.

Im Jahresbericht ist zu lesen, dass der Einsatz von Freiwilligen sehr schwierig geworden ist – was tun Sie dagegen?
Die Anforderungen für die Betreuung werden immer grösser, der Schulungsaufwand für die Freiwilligen immer intensiver. Wir passen darum das Anforderungsprofil und die Arbeiten für die Freiwilligen an, um für Interessierte trotzdem die Möglichkeit zu schaffen, bei uns eine sinnstiftende Freiwilligenarbeit zu leisten.

Wie sieht es mit Fachkräften aus?  
Der Fachkräftemangel ist auch bei uns akut. Wir haben eine Bildungsoffensive gestartet, um Quereinsteiger zu motivieren, sich bei uns intern umschulen zu lassen. Zusätzlich wollen wir noch mehr Lehrstellen anbieten.  

Häufig sind es Frauen mit Familien, die sich desillusioniert von Pflegeberufen abwenden.
Bei den Kinderbetreuungsplätzen hat der Kanton Luzern grossen Nachholbedarf. Hier führen wir Gespräche im Verbund mit anderen Kitas, um Lösungen zu finden. Es braucht dringend genügend Kitas und entsprechende Öffnungszeiten, die an die Arbeitszeiten der Pflegenden angepasst sind. Was ist mit Mitarbeitenden, deren Schicht um 6.30 Uhr beginnt und die ihr Kind vorher in eine Krippe bringen möchten?

Themawechsel. Die SSBL hat 2016 die Wohngruppen Blochwil, das Hochstudhuus Dagmersellen und das Casa Macchi in Willisau geschlossen. Im Nachgang ein richtiger Entscheid?
Solche Entscheide, die vor meiner SSBL-Zeit getroffen wurden, sind nie einfach. Aber sie waren nötig. Die Wohngruppen entsprachen nicht mehr den Anforderungen, die Einrichtungen waren veraltet. Zudem entstanden in Rathausen fast gleichzeitig drei Wohnhäuser mit 60 Pflegeplätzen und 30 Plätze für die Intensivbetreuung. So war gewährleistet, dass die Menschen die richtige Infrastruktur vorfinden.

Begründet wurde dieser Schritt auch damit, dass kleine Häuser wirtschaftlich nicht rentabel betrieben werden können. Die Wohnhäuser in Reiden, Hergiswil oder auch in Pfaffnau sind ähnlich klein...
Das sind allesamt Standorte, die latent gefährdet sind. Ein Beispiel: In Hergiswil müssen wir die Nachtwache einführen, weil es Menschen gibt, die Betreuung in der Nacht benötigen. Das sprengt den finanziellen Rahmen. Hier in Rathausen haben wir ein paar Mitarbeitende für die Nachtwache für 186 Bewohnerinnen und Bewohnern.

Sind dezentrale Wohngruppen in diesem Fall ein Auslaufmodell?
Nein, wir bekennen uns zu dezentralen Standorten mit möglichst grosser Integration in das dörfliche Leben. Nur: Es gibt eine Wahlfreiheit, wo die Menschen mit Beeinträchtigung leben wollen und in welchen Strukturen die Bedürfnisse dieser Menschen am besten abgedeckt werden können. Statt Zentralisierung spreche ich lieber von «Inklusion vor Ort».

Heisst?
Rathausen soll noch verstärkt ein Ort der Begegnung und des Austauschs zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung werden. So lassen sich Berührungsängste abbauen. Ein gutes Beispiel ist unser öffentliches Café: Hier treffen Erholungssuchende auf  Mitarbeitende oder Klientinnen und Klienten auf Erholungssuchende. Ganz nach unserem Motto «zmitts drin».

Sie sind jetzt 64 Jahre alt. Die Pensionierung ist nicht mehr weit. Welche Ziele wollen Sie mit der SSBL noch erreichen?
Ich hätte den Job nicht angenommen, wenn ich das Okay nicht erhalten hätte, länger als bis 65 hier arbeiten zu können. Es gibt hier noch einiges zu tun: Digitalisierungs- und Bauprojekte sowie die Strategieentwicklung für die nächsten fünf Jahre. Die Arbeit geht mir also nicht aus.

Das letzte Wort gehört Ihnen.
Die Bedürfnisse der Klienten stehen im Zentrum all unserer Tätigkeiten: Mich macht es deshalb stolz, dass wir in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern eine Studie initiiert haben. Diese soll zeigen, wie die Klientinnen und Klienten in Zukunft wohnen wollen. An der Umfrage machen 23 soziale Organisationen, Insieme, Cerebral, Pro Infirmis, Procap und sämtliche heilpädagogischen Schulen mit. Auf die Ergebnisse der Studie sind wir gespannt. Wahrscheinlich kenne ich 70 Prozent der Antworten. Aber spannender dürften die restlichen 30 Prozent sein.

Stephan Weber

 

Er fischt und wandert gerne
Pius Bernet ist 64 Jahre alt, verheiratet und Vater von vier Kindern. Er wohnt in Egolzwil. In seiner Freizeit fischt er gerne, geniesst die Familie und schnürt sich die Wanderschuhe. Bernet ist Parteipräsident der Mitte Egolzwil, Mitglied bei den Lions Willisau und unter anderem Vorstandsmitglied beim Schweizerischen Roten Kreuz Kanton Luzern. Geschäftsführer beim SSBL Luzern ist er seit Juli 2018. Vorher war der Egolzwiler als Finanzchef der Schweizer Paraplegiker-Gruppe tätig. 2016 wurde der diplomierte Betriebsökonom FH mit Masterabschluss in Nonprofit-Management vom Berufsverband der Schweizer CFOs zum «Finanzchef des Jahres 2016» gewählt. (swe)

330 Plätze und 870 Mitarbeitende
Am 16. November 1971 wird die Stiftung für Schwerstbehinderte Luzern (SSBL) gegründet. Der erste SSBL-Standort war die Soldatenstube «Eichwäldli» in Luzern, 1979 folgt die erste Wohngruppe in Gunzwil. In der Folge wächst die Stiftung kontinuierlich und es entstehen überall im Kanton Luzern Wohnplätze und Tagesstrukturen für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Ein Meilenstein in der
SSBL-Geschichte passiert 1983, als die Stiftung nach Rathausen zieht und fortan die leerstehenden Gebäude des «Kinderdörfli» beim ehemaligen Kloster nutzt. Heute bietet die SSBL rund 330 Wohnplätze und 75 Tagesplätze an und beschäftigt ungefähr 870 Mitarbeitende. (pd/swe)

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