Schritt für Schritt 2400 Kilometer unterwegs

Sonja Stöckli hat ihre einstigen Wohnorte Willisau und Schötz weit hinter sich gelassen: Gemeinsam mit Partner Thomas Furter wanderte sie von Huttwil nach Valbona in Albanien. «Schritt für Schritt haben wir neue Kulturen und Naturschönheiten kennengelernt.»

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Norbert Bossart

«Eine Weitwanderung war unser langgehegter, unausgesprochener Traum», sagt Sonja Stöckli (52). Ihr Partner Thomas Furter (51) nickt. «Wir hatten im tiefsten Innern ein Reissen danach, etwas Aussergewöhnliches zu erleben.»

Zu Fuss, selbst mit kleinen Schritten, kommt ein Mensch weit. «Sehr weit», gibt Sonja Stöckli zu bedenken. «Schritt für Schritt verändert sich die Kultur und das Alltagsleben. Und dies langsam», hält Thomas Furter fest. Unsere Füsse seien das günstigste und ökologischste Verkehrsmittel. «Das gerät leider immer mehr in Vergessenheit.»

Die Lust, selber aufzubrechen, stärkte bei ihnen ein Zeitungsbeitrag, den sie während einer Zugfahrt im November 2018 lesen. Darin berichtet eine junge Schweizerin von ihrer Wanderung auf dem «Pacific Crest Trail», kurz PCT genannt. «Freiheit und Natur pur: Ein solches Abenteuer wollten wir auch in Angriff nehmen.» Die Fernwanderung auf dem PCT beginnt an der amerikanisch-mexikanischen Grenze, führt querbeet durch die Sta-aten Kalifornien, Oregon und Washington und endet in Kanada. Insgesamt fast 4300 Kilometer, rund fünf Wandermonate durch fünf verschiedene Klimazonen.

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Wenn eine alte Leidenschaft neu erwacht

Wandern. «Das war schon immer unsere gemeinsame Leidenschaft», hält Sonja Stöckli fest. Blicken wir zurück: Die beiden lernen sich im Schweizerischen Alpen-Club in der Sektion Toggenburg kennen und lieben. Beide waren relativ früh in ihren einstigen Beziehungen Eltern geworden. «So konnten wir in unseren jungen Jahren das Wandern und Reisen nicht richtig ausleben», sagt der gebürtige Toggenburger. Auf dem «Pacific Crest Trail» wollten sie Verpasstes nachholen.

Im Frühling 2019 macht sich das Duo an die Planung des Fernwanderwegs ennet dem Teich. Sie holen das nötige Touristenvisum B2 ein und die erforderlichen «Permits», also Bewilligungen. Auch sichern sie sich zwei Startplätze. Denn diese sind für diesen Trail auf 50 Personen pro Tag begrenzt, damit die Natur nicht überstrapaziert wird. Das Paar kauft sich ultraleichte Materialien für die Wanderung, stellt ein Reisebudget zusammen und bucht einen Flug nach San Diego. Ihre Wanderfähigkeit testen die beiden im Sommer 2019 auf der italienischen «Grande Traversata delle Alpi». Ihre Zuversicht wächst. So künden sie auf Ende April 2020 ihre Jobs. Sonja Stöckli, die in Schötz wohnhaft ist, war zuletzt als diplomierte Pflegefachfrau bei der Spitex Huttwil tätig, Thomas Furter als Informatiker im Kanton Zürich. «Den Job aufzugeben, ist uns leicht gefallen.  «Auch mit über fünfzig Jahren findet sich in unseren Branchen wieder eine passende Arbeit», sagt Sonja. «Oder es ergeben sich neue Perspektiven», ergänzt Thomas. Ihre Wohnungen in Schötz und Wil lösen sie auf.
 

Wenn Corona monatelange Planung über den Haufen wirft

Doch dann, Mitte März 2020, macht die Corona-Pandemie sämtliche Reisepläne zunichte. Eine Einreise in die USA ist unmöglich. Trotzdem müssen sie ihre Wohnungen verlassen. Sie ziehen notgedrungen in die Ferienwohnung auf dem «Lamahof Tschäppel» in Huttwil ein. Beide können ihre Arbeitsverträge um je einen Monat verlängern. Thomas Furter wirkt zu Hause im Homeoffice. Sonja Stöckli radelt mit dem Velo zur Arbeit  – denn das Auto ist bereits abgegeben. 

Es gilt die Reisepläne, die sie während fast eineinhalb Jahre gemeinsam geschmiedet hatten, der aktuellen Corona-Lage anzupassen. Ein Ziel bleibt: «Wir wollten auf jeden Fall diesen Sommer nur mit dem Nötigsten im Gepäck unterwegs sein.» Sie erinnern sich an eine Reise mit dem SAC Toggenburg, als sie zehn Tage in Albanien weilten. «Wir waren von dieser wilden Region und Kultur fasziniert», berichtet Sonja Stöckli. So beschliessen die beiden die «Via Dinarica» zu wandern. Dieser noch unbekannte, rund 1300 Kilometer lange Fernwanderweg führt über die dinarischen Alpen: von Razdrto in Slowenien, durch Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro nach Valbona im Norden von Albanien.

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Wenn Weggefährten Teil des Weges werden

Am 31. Mai 2020 gehts los. «Endlich!»  Das Duo startet mit seinen Velos von Huttwil Richtung Kirchberg, St. Gallen. Hier befindet sich das Möbellager, wo auch die Velos abgestellt werden sollen. Familie, Freunde und Bekannte laden sie unterwegs zum Abendessen und Übernachten ein. «So konnten wir uns in der Corona-zeit bei kleinen Treffen von langjährigen Weggefährten verabschieden.» Datum des erstes Wandertags: 12. Juni 2020. Zu Fuss gehts von Freunden zu Bekannten. Sie wandern während dreier Wochen quer durch die Ostschweiz und weiter nach Cazis. Denn hier, in der Alterssiedlung St. Martin, wohnt Sonja Stöcklis Mutter. Der letzte der 40 Besuche auf Schweizer Boden. Weiter gehts von der italienisch-schweizerischen Grenze durch das Vinschgau ins Südtirol. Von dort ziehen die «Vagabunden», wie sie sich selber nennen, entlang der österreichischen-italienischen Grenze auf dem «Südalpenweg» weiter und erreichen Slowenien. Sie folgen nun der «Via Alpina» und erreichen nach elf Wochen ihr erstes Zwischenziel: Razdrto, der Startpunkt der «Via Dinarica». Weiter gehts. Mutterseelen-alleine. Durch karge Landschaften, ausgedehnte Wälder, vorbei an kleinen Streusiedlungen.


Wenn Wölfe, Bären und wilde Pferde unterwegs sind

«Uns Hikern fehlte es an nichts.» Sie schlafen im Zelt, in Berghütten, ab und zu in einem Doppelzimmer. «Wir verloren das Zeitgefühl.» Egal ob es Montag, Freitag oder Sonntag ist: «Es gibt kein Alltagsdruck, keine Vorgaben, kein Müssen. Wir liessen uns schlicht und einfach nur treiben», sagt Sonja Stöckli. «Dieses langsame Unterwegssein, mit dem du doch in absehbarer Zeit weit kommst, hinterlässt intensive Eindrücke», fügt Thomas Furter hinzu. Wasser wird im karstigen Gebirge zum Luxusgut, die Wertschätzung dafür wächst: «Wir freuten uns, wenn wir in einer Unterkunft wieder die Hände waschen konnten», sagt Sonja Stöckli. «Die Wege waren teilweise herausfordernd.» Streunende Hunde, Bären, Wölfe. Letztere hören sie aufheulen, etwa in den Nächten auf kroatischem Boden. Mulmige Gefühle im Zelt. Mitten im Nirgendwo. «Angst hatten wir nicht, aber Respekt», sagt Thomas Furter. Respekt hatten sie etwa in Bosnien und Herzegowina, als ihr Begleiter – ein streunender Hund – querbeet durchs Minenfeld trottete. Oder als ein Wildschwein, ein kräftiger Keiler, sie kampflustig anschnaubte – und darauf im Dickicht verschwand. In Nordkroatien entschied sich das Paar spontan für eine Nachtwanderung. «Auf der Forststrasse hörten wir plötzlich Geräusche: Wir schreckten eine Herde ruhender Pferde auf, die dann im Galopp an uns vorbeiraste», sagt Sonja Stöckli. «Das war ein unangenehmer Moment.» Unvergesslich auch eine Begegnung mit einem Bären, der eiligst im Gestrüpp verschwand. 

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Wenn die Ärmsten reichlich für Herzenswärme sorgen

Keine Zeitvorgaben zu haben, sei «ein grosser Luxus», sagt Sonja Stöckli. So bleibt genügend Freiraum, um Schönheiten zu entdecken und Einheimische zu besuchen. «Die Ärmsten waren meist die grosszügigsten Menschen», berichtet Thomas Furter. Sandwiches. Marmelade. Getränke. Das sind Geschenke, welche die Wandernden häufig erhalten. «Sehr eindrücklich», sagt Sonja Stöckli und fügt an: «Menschen, die sich nur mit Müh und Not über die Runden bringen, waren immer hilfsbereit und herzlich.» Die Gastgeber sind interessiert an ihren Besuchern, erkundigen sich Wochen später per WhatsApp sogar nach dem Wohl der Wandernden. Auch wenn die Verständigung häufig schwierig ist, können via Internet-Dienst «Google-Translator» einige Worte gewechselt werden. «Für uns war es nebst dem Genuss der Freiheit und Abgeschiedenheit in der Natur ebenso wichtig, die Lebensweise und Kultur der Menschen vor Ort kennenzulernen», sagt Thomas Furter. Zudem wollten sie in der schwierigen Zeit die Einheimischen unterstützen, indem sie für ein Entgelt bei diesen übernachten. 

Die Schweizer kommen am 11. Oktober 2020 in Mratinje, Montenegro, an. Grosse Regenschauer und Schneefälle werden angekündigt. Ans Weiterwandern ist nicht zu denken. So besuchen sie die nächsten sechs Tage die Hauptstadt Podgorica und die Hafenstadt Kotor. Das Wetter bessert sich, die Wanderung lässt sich fortsetzen. «Die letzten 250 Kilometer waren für uns wie ein unerwartetes Geschenk», sagt Thomas Furter. «Diese Strecke haben wir ganz bewusst genossen.»

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Wenn Blogeinträge Erlebnisse festhalten

Nach fünf Monaten, fast 2400 Kilometern, rund 90 000 Höhenmetern, fünf Paar abgetretenen Schuhen und elf Pflastern erreichen Sonja Stöckli und Thomas Furter am 27. Oktober Valbona, das Ende der «Via Dinarica». Von hier aus erkunden sie mit Tageswanderungen die Umgebung. Am 11. November reisen sie in einer 30-stündigen, abenteuerlichen Busfahrt zurück in die Schweiz. Neben dem Wandern fanden die zwei immer die Zeit, ein Tagebuch zu führen. «www.wurzelkocher.ch» nennt sich der entsprechende Blog. Hier lassen sich 34 Einträge nachlesen. Meist war Sonja Stöckli fürs Schreiben verantwortlich. «Unsere Berichte waren jeweils eine gute Verarbeitung der Erlebnisse», sagt diese. «Auch waren damit unsere Angehörigen und Freunde bestens informiert», ergänzt Thomas Furter. 


Wenn das Ende der Anfang einer neuen Reise ist

Gibts einen Gegenstand, der es im Nachhinein nicht mehr in den Rucksack schaffen würde? «Der Regenschirm», sagt Sonja Stöckli und lacht. «Einen solchen haben wir nie gebraucht.» Und überhaupt: Je weniger man beim Wandern trage, desto besser. «Minimalismus macht frei und erweitert den Horizont», sagt Thomas Furter. Holen die beiden ihren ursprünglichen Plan nach, und wandern dereinst auf dem amerikanischen «Pacific Crest Trail»? «Wohl nicht», lautet die Antwort. «Nach diesem Abenteuer können wir kaum auf einem solch regulierten und stark begangenen Weg glücklich werden.»

Noch haben Sonja Stöckli und Thomas Furter weder eine Wohnung noch einen Job gesucht. Momentan übernachten sie noch bei der Familie und Freunden. «Doch uns fehlt es an nichts», sagt Sonja Stöckli. «Nun haben wir die Möglichkeit, nach vier Jahren Partnerschaft unsere Zukunft zusammen zu planen.»

Keine volle Agenda zu haben, sei das Faszinierende im jetzigen Vagabundenalltag. «Wir wollen kommendes Jahr nochmals etwas Ähnliches machen.» Erneut das sichere Hausdach gegen ein Zeltdach eintauschen. Einen anderen Weg durch Europa mit Rucksack und Wanderschuhen unter die Füsse nehmen. «Schritt für Schritt.»

Janine Walthert

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