Vom Kriegsgebiet ins Klassenzimmer

Laut aktuellen Zahlen besuchen 502 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine die Volksschule im Kanton Luzern. Wie funktioniert die Integration der Lernenden in unser Bildungssystem? Der WB hat bei vier Schulleitenden der Region nachgefragt.

«Eine Sprache zu lernen braucht Zeit.» Lehrerin Iuliana Frei (rechts), die selbst aus der Ukraine stammt, beim Unterrichten der Schötzer Integrationsklasse. Foto Anna Graf
Anna Graf

Wenn Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter in die Schweiz flüchten, muss ihnen eine Ausbildung ermöglicht werden. So auch im Fall der 502 Ukrainerinnen und Ukrainer, die laut aktuellen Zahlen der Dienststelle Volksschulbildung (DVS) entweder eine Gemeindeschule oder den Unterricht in einer Asylunterkunft des Kantons Luzern besuchen. Wie die Bildungsstätten die Integration der Geflüchteten organisieren, ist von Situation zu Situation verschieden. Vier Schulleitende aus dem WB-Lesergebiet berichten von ihren bisherigen Erfahrungen.
 

Ähnliches Konzept wie bisher

In den temporären Asylunterkünften in St. Urban und Wikon besuchen aktuell 23 respektive 27 ukrainische Lernende den obligatorischen Unterricht. «Wir wollen den Kindern möglichst schnell einen normalen, strukturierten Schulalltag bieten, in dem sie sich sicher fühlen», sagt Brigitt Stadelmann, Leiterin der Schulangebote Asyl. Während 15 Lektionen verteilt auf fünf Wochentage werden die Fächer Deutsch als Zweitsprache, Mathematik und Sport unterrichtet. Hauptziel ist die Vorbereitung auf den späteren Besuch einer Gemeindeschule. Nach diesem Konzept werden im Kanton Luzern seit Jahren alle Kinder von Asylsuchenden im Volksschulalter unterrichtet. «Allerdings kommen bei den ukrainischen Flüchtlingen mehr Kinder im schulpflichtigen Alter in die Schweiz, als es etwa im Rahmen der Flüchtlingswelle 2015 bei Asylsuchenden aus Afghanistan oder Syrien der Fall war», sagt Brigitt Stadelmann. Während bisher das 2016 in Betrieb genommene Schulhaus Schädrüti in Luzern für den obligatorischen Schulunterricht von Flüchtlingskindern ausreichend war, sind nun neben den Schulangeboten in Wikon und St. Urban Unterkünfte und zusätzliche Schulräume in Nottwil, Meggen und Adligenswil geplant, weitere werden voraussichtlich folgen. «Diese sollen je nach Entwicklung der Asylzahlen nicht ausschliesslich für Lernende aus der Ukraine, sondern für unterschiedliche Nationalitäten zur Verfügung stehen», so Brigitt Stadelmann.

Der ukrainische Unterricht ist stärker auf Frontalunterricht und Leistungsdruck ausgelegt als der Schweizer Unterricht, in dem zwischenmenschliche Fähigkeiten mehr gewichtet werden.
Brigitt Stadelmann
Leiterin Schulangebote Asyl

Andere Kultur, andere Erwartungen

Der Schulbetrieb in St. Urban und Wikon ist von Schwankungen und Unsicherheiten geprägt. «Wir wissen nie, wie lange ein Kind in der Unterkunft bleiben wird», sagt Brigitt Stadelmann. Umzüge in eine zur Verfügung gestellte Wohnung, neue Einreisen – aber auch Ausreisen – verändern die Klassengrössen ständig. Aktuell führen die Unterkünfte in Wikon und St. Urban je drei Klassen mit 5 bis 14 Kindern. Die Zuteilung orientiert sich am Alter und den Deutschkenntnissen der Lernenden. «Die Klassen sind klein, der Unterricht wird individuell angepasst», sagt Brigitt Stadelmann. Die Schülerinnen und Schüler sollen nicht nur Deutsch lernen, sondern auch mit der Schweizer Kultur und dem hiesigen Bildungssystem vertraut werden. «Der ukrainische Unterricht ist stärker auf Frontalunterricht und Leistungsdruck ausgelegt als der Schweizer Unterricht, in dem zwischenmenschliche Fähigkeiten mehr gewichtet werden», sagt Brigitt Stadelmann. «Daran müssen sich sowohl die geflüchteten Kinder als auch deren Eltern erst gewöhnen.»
 

Glück bei der Personalsuche

Bei kulturellen oder sprachlichen Missverständnissen kann sowohl in Wikon als auch in St. Urban je eine ukrainischsprechende Lehrperson weiterhelfen. Die beiden Lehrerinnen aus der Ukraine leben schon länger in der Schweiz, beherrschen die deutsche Sprache und haben ein Zusatzmodul der PH Luzern absolviert. Die EDK-Anerkennung zur Ausübung von Lehrberufen in der Schweiz können sie zu einem späteren Zeitpunkt noch beantragen. Dank ihren ukrainischen Sprachkenntnissen vermitteln die Lehrpersonen im Alltag, sei es beim Stundenplan oder der benötigten Turnausrüstung. Für grössere Gespräche wird aber stets eine Dolmetscherin oder ein Dolmetscher herbeigezogen. «Die Lehrpersonen sollen keine Doppelrolle einnehmen», erklärt Brigitt Stadelmann. In Wikon ist zusätzlich ein Lehrer aus Aserbaidschan angestellt, der nebst Deutsch sowohl Ukrainisch als auch Russisch spricht. Die zweite Lehrperson in St. Urban stammt aus Deutschland und verfügt über Unterrichtserfahrung in der Schweiz. «Mit diesen vier Lehrpersonen haben wir motivierte Fachkräfte gefunden, die sich seit letztem Mai bestens bewähren», sagt Brigitt Stadelmann.

Drei bis vier DaZ-Lektionen pro Woche sind eigentlich zu wenig für Kinder, die anfangs noch kein einziges Wort Deutsch sprechen
Remo Di Monaco
Gesamtschulleiter der Schulen Menznau, Geiss und Menzberg

Herausforderung für Gemeinden

Wird einer Flüchtlingsfamilie im Anschluss an den Aufenthalt in der Asylunterkunft eine Wohnung zugeteilt oder kommt sie bei Bekannten unter, ist per sofort die Wohngemeinde für die Schulbildung der eingewanderten Kinder und Jugendlichen zuständig. In Menznau besuchen aktuell fünf ukrainische Kinder den Regelunterricht: drei davon die Oberstufe in Menznau, eines die fünfte Primarstufe und eines die Basisstufe in Geiss. Sie alle sind seit Februar im alten Pfarrhaus in Geiss untergebracht. «Für eine separate Aufnahmeklasse waren es zu wenige», erklärt Remo Di Monaco, Gesamtschulleiter der Schulen Menznau, Geiss und Menzberg. Zudem seien die Altersunterschiede sehr gross, was ebenfalls gegen eine gemeinsame Klasse sprach. Mit der Schule Wolhusen war man zu Beginn der Flüchtlingswelle für eine gemeindeübergreifende Aufnahmeklasse in Kontakt. Aufgrund der wenigen ukrainischen Kinder zu diesem Zeitpunkt wurde dieses Vorhaben jedoch nicht weiterverfolgt. Nebst dem Besuch des Regelunterrichts mit ihren deutschsprachigen Schulgspändli erhalten die Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine je nach Gruppengrösse und Alter drei bis vier DaZ-Lektionen (Deutsch als Zweitsprache) pro Woche, die vom Kanton bezahlt werden. «Das ist eigentlich zu wenig für Kinder, die anfangs noch kein einziges Wort Deutsch sprechen», sagt Remo Di Monaco. Doch für eine intensivere Betreuung fehlten die finanziellen und personellen Ressourcen. Die zusätzlichen DaZ-Lektionen übernehmen bereits angestellten Fachlehrpersonen, die ihre Pensen erhöht haben. Im letzten Schuljahr half zudem eine pensionierte Lehrerin aus. Während sprachliche Missverständnisse mit Ausweichen auf Englisch, technischen Hilfsmitteln oder bei Bedarf mit einer Dolmetscherin gelöst werden, blieben andere Fragen offen, so der Schulleiter. Etwa die Frage, ob ein ukrainisches Kind in der fünften Klasse zusätzlich zur deutschen auch die französische Sprache lernen soll. «Aus unserer Sicht schon», sagt Remo Di Monaco. «Denn wir wollen den Schülerinnen und Schülern die beruflichen Zukunftschancen in der Schweiz nicht verbauen.» Trotz verschiedener Unsicherheiten stehe die Integration an den Schulen Menznau an oberster Stelle. «Es war uns von Anfang an ein Anliegen, dass die Kinder am selben Ort zur Schule gehen können, an dem sie von nun an zu Hause sind – so schaffen wir eine vertraute Struktur.»

Es war unserer ukrainischen Schülerin und allen anderen Beteiligten ein grosses Anliegen, sie nicht schon wieder aus einem behüteten Umfeld herauszureissen.
Thomas Graber
Gesamtschulleiter der Schulen Dagmersellen, Uffikon und Buchs

Auf der Suche nach Kontinuität

Das Bedürfnis nach einem vertrauten Alltag zeigt sich auch im Fall einer ukrainischen Jugendlichen an der Schule Dagmersellen. Gemeinsam mit ihrer Mutter kam sie bei ihrer Schwester unter, die seit Längerem mit einem Dagmerseller verheiratet ist und hier lebt. Dann fand die Mutter in Knutwil eine eigene Wohnung. Der Umzug hätte einen automatischen Schulwechsel an die Oberstufe Sursee bedeutet – obwohl die junge Ukrainerin bereits das letzte obligatorische Schuljahr in Dagmersellen begonnen und sich mit ihren Schulgspändli angefreundet hatte. «Die Schülerin war sehr bemüht, Deutsch zu lernen und Anschluss zu finden», sagt Thomas Graber, Gesamtschulleiter der Schulen Dagmersellen, Uffikon und Buchs. «Deshalb war es ihr selbst und allen anderen Beteiligten ein grosses Anliegen, sie nicht schon wieder aus einem behüteten Umfeld herauszureissen.» Als «Entscheid zum Wohle des Kindes» habe man die Vereinbarung getroffen, dass die junge Ukrainerin die dritte Oberstufe in Dagmersellen abschliessen kann. Danach wird sie voraussichtlich eine weiterführende Ausbildung für junge Geflüchtete der Schulangebote Asyl besuchen.

Die Integrationsklasse geht oft nach draussen, zum Beispiel um einzukaufen oder den Busfahrplan zu studieren.
Peter Bigler
Schulleiter Schule Schötz

Drei Schulen spannen zusammen

Die aktuell einzige separate Aufnahmeklasse für fremdsprachige Kinder im WB-Lesergebiet wird an der Schule Schötz geführt (siehe Kasten). Dort besuchen zehn Kinder von der zweiten bis zur achten Klasse den Unterricht. Sieben stammen aus der Ukraine, zwei aus Griechenland und eines aus Syrien. Sie alle sind seit circa März in Schötz, Wauwil oder Egolzwil wohnhaft, für jene aus den letzten beiden Ortschaften fährt täglich ein Schulbus nach Schötz. Jeden Vormittag von Montag bis Donnerstag lernen die Schülerinnen und Schüler Deutsch als Zweitsprache und Mathematik. «Hierbei verfolgen wir eine handlungsbasierte Lernstrategie», sagt der Schötzer Schulleiter Peter Bigler. Heisst: «Die Klasse geht oft nach draussen, zum Beispiel um einzukaufen oder den Busfahrplan zu studieren.» Ziel solcher Übungen: Möglichst schnell den Wortschatz für das Leben und den Unterricht in der Schweiz aufbauen und sich dabei mit der hiesigen Kultur auseinandersetzen. Betreut werden die Schülerinnen und Schüler von einer ukrainischen Lehrerin, die mit einem Schötzer verheiratet ist und schon länger in der Schweiz lebt. Zur zusätzlichen Unterstützung wird häufig eine Klassenassistenz herbeigezogen. Immer nachmittags und den ganzen Freitag nehmen die Schülerinnen und Schüler am Unterricht der Regelklasse teil – das betrifft insbesondere Lektionen wie Bewegung und Sport oder bildnerisches Gestalten, die weniger vom Sprachverständnis abhängen. «So sollen die Kinder trotzdem bereits in Kontakt mit anderen Gleichaltrigen kommen», sagt Peter Bigler. Die Klasse wurde bis Ende Schuljahr bewilligt. Mit dem Konzept und der bisherigen Zusammenarbeit mit Wauwil und Egolzwil ist der Schulleiter sehr zufrieden. «Dank dieser Kooperation erfüllen wir nicht nur die Zahlenkriterien für eine Auffangklasse, sondern bündeln auch gemeinsame Ressourcen.»
 

Flexible und individuelle Lösungen

Ob bei Neuaufnahmen, Übertritten oder der Gewinnung von Lehrkräften für den DaZ-Unterricht: Die Schulleitungen seien bei der Integration von ukrainischen Schulkindern weiterhin gefordert, könnten aber auf erste Erfahrungen vom Frühling zurückgreifen, sagt Martina Krieg, Leiterin der Dienststelle Volksschulbildung. «Trotz verschiedener Herausforderungen zeigten sich die Luzerner Schulen flexibel und passten ihre Strukturen rasch an.» Das eine richtige Integrationsmodell gebe es hierbei nicht, so Martina Krieg: «Es braucht Lösungen, die vor Ort Sinn machen.»

Im DaZ-Unterricht schreiben die Schülerinnen und Schüler auf, was ihnen gute Laune bereitet. Foto Anna Graf

«Mein früheres Schulhaus war weniger schön»

Schötz Ein Schultag in der Integrationsklasse: Kinder im Alter von 7 bis 15 Jahren schreiben auf Papier, warum sie gute Laune haben. «Weil ich in der Schule bin», schreibt Mahmoud (11) aus Syrien. Iuliana Frei lacht. «Das höre ich gerne.» Die ukrainische Lehrerin heiratete vor drei Jahren einen Schweizer und zog nach Schötz. Seit April unterrichtet sie im Rahmen einer Kooperation der Schulen Schötz, Wauwil und Egolzwil eine Aufnahmeklasse mit sieben Flüchtlingskindern aus der Ukraine, zweien aus Griechenland und einem aus Syrien. Bei der heutigen Übung sollen die Schülerinnen und Schüler das Bilden von Begründungssätzen lernen. «Die deutsche Sprache ist auch für mich noch eine Herausforderung», sagt Iuliana Frei. «Doch ich gebe mein bestes.» Rostik (9) will der Lehrerin sein Blatt abgeben. «Ich bin fertig», sagt er auf Ukrainisch. Iuliana Frei weist auf das Plakat mit den Schulregeln. «Sag es bitte auf Deutsch.» Rostik wiederholt seinen Satz, diesmal etwas langsamer. «Ich muss die Kinder immer wieder ermahnen, nicht in ihrer Muttersprache zu sprechen», sagt Iuliana Frei. Um sie zum Austausch mit deutschsprachigen Schulkindern zu ermuntern, hat die Lehrerin Freundschaftsbücher mit Fragen für die Schulgspändli der Kinder vorbereitet. «Hoffentlich kommen sie so mit Gleichaltrigen ins Gespräch.»
 

Kleine bis grosse Unterschiede

Auf die Frage, was an der Schweizer Schule anders sei als in der Ukraine, schiessen zahlreiche Hände in die Luft. Iuliana Frei hilft beim Übersetzen der Antworten. «Hier gibt es keine Mensa, sondern ich muss mein Essen selber mitnehmen», sagt Savva (7). Das finde er schade – ringsherum bestätigendes Nicken. Auch die dreimonatigen Sommerferien von Juli bis September vermissen die Kinder. Andere Dinge seien aber besser in der Schweiz: «Mein früheres Schulhaus war weniger schön», sagt Karolina (11). Iuliana Frei erklärt, dass Renovationen an ukrainischen Schulen nicht mit öffentlichen Geldern, sondern mit Privatzahlungen von Eltern finanziert werden. «Und die Lehrpersonen hier sind netter», fügt Tetiana (15) an: «Ein bisschen wie Freunde.» Rostik (9) stimmt ihr zu: «In der Ukraine ist der Schulleiter der grosse Boss, der alles bestimmt – hier können wir mehr selber machen.»
 

Zeit zur Eingewöhnung

Die fertig geschriebenen Gute-Laune-Sätze werden dekoriert und an die Wand gehängt. «Ich habe gute Laune, weil ich gestern ein gutes Spiel gespielt habe», steht da. Oder «weil ich mit meiner Freundin gesprochen habe». Der eine oder andere Rechtschreib- oder Grammatikfehler hat sich noch eingeschlichen. «Eine Sprache zu lernen braucht Zeit», sagt Iuliana Frei. Dann entlässt sie ihre Schülerinnen und Schüler in die grosse Pause, aufgeregt rennen sie davon. «Im April waren sie noch viel wilder», meint die Lehrerin. «Nun haben sie sich schon etwas eingewöhnt.»

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • HTML - Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Web page addresses and email addresses turn into links automatically.