Über das Gegebene hinauskommen

Alois Lichtsteiner ist ein Maler, dem es nicht um das Abbilden einer vorgefundenen Wirklichkeit geht. Er schafft seine eigenen Wirklichkeiten. Er schuf das Titelbild der Weihnachtsausgabe des Willisauer Boten. Ein Besuch in seinem Atelier.

Alois Lichtsteiner in seinem Atelier. Foto zvg
Norbert Bossart

Das Bild ist nicht, was es scheint. Es ist nichts als Farbe. Eine weite weisse Fläche, die sich im oberen Bilddrittel rechts zum gerundeten Horizont wölbt, links zu einer Pyramide aufwirft und in einen Sattel ausgleitet. Graue, gedämpft schwarze Farbsprengsel mit Akzenten in Braun und Rot geben im beherrschenden Weiss Felsfragmente vor. Was das Bild zeigt, ist die Idee einer tief verschneiten Berglandschaft. Alois Licht­steiner hat diese Idee gemalt. Es ist für ihn ein Bild von grosser Sehnsucht, das die Atmosphäre von Erwartung, von geheimnisvoll Verborgenem atmet. Das Bild passt in die Weihnachtszeit.

Was das Bild nicht ist: die Wiedergabe einer real existierenden Berglandschaft, gesehen von einem Standpunkt aus, der sich in präzis notierten Koordinaten wieder auffinden liesse. Das Bild ist eine Konstruktion, nicht anders als die grossformatigen Malereien, unter denen es im Atelier von Alois Lichtsteiner in Murten hängt, mit dickem Farbauftrag gemalte Kompositionen von Schnee und Stein – als wären es Landschaften, nach der Natur geschaffen. Es passiere ihm immer wieder, sagt der Künstler, dass Betrachterinnen und Betrachter die Szenerien seiner Bilder als selbst gesehene, auf Touren erkundete und erfahrene Berggegenden erkennen würden. 

 

Stimmung und Atmosphäre

Doch Alois Lichtsteiner ist kein Landschaftsmaler. Ihm geht es nicht um die Landschaft, ihm geht es um die Malerei, und wenn er die Idee einer Berglandschaft in ein Bild bringt, will er nicht die Landschaft zeigen, sondern die Empfindung auslösen, die Stimmung und Atmosphäre, die sich in einer realen Landschaft erleben lässt. Die Idee dieser Landschaft soll sich in der Anschauung des Bildes vergegenwärtigen.

«Die Farbe als Haut auf einem Bild-Körper ist es, was mich interessiert und beschäftigt», sagt Alois Lichtsteiner. Der Gegenstand, das, was ein Bild, was die Farbe zeigt, ist nur Vorwand und Anlass, Farbe als Material und Substanz in Szene zu setzen. Mitten im Atelierraum steht ein einfaches anthrazit bemaltes Bettgerüst, die Matratze darauf eingeschlagen in ein mit vielfachen Schichten weisser Farbe bedecktes Leintuch. Eine bezogene Bettdecke, satt von Ölfarbe getränkt, liegt noch auf dem Boden, ein rotes und ein weisses Kissen daneben. Seit Monaten liegen die Objekte da, nur sehr schwer trocknet die zähe Ölfarbe.

Alois Lichtsteiner, ohne Titel, aus der Reihe «Berg», Öl auf Leinwand, 140 x 100 cm.

Jedes Bild, jeder Berg

Hoch an der Wand, gegenüber den Bildern, die mit Weiss und Elfenbeinschwarz den Anschein von Schnee und Felsen suggerieren, hängt eine Malerei, die in Trompe-l'oeil-Manier die Rückseite einer auf einen Keilrahmen gespannten Leinwand zeigt: die Holzlatten, die aufgenagelten Leinwandränder. Das Bild verweigert seinen Gegenstand, indem es ihn zeigt: Zu sehen ist nicht die Darstellung, sondern der Träger dieser Darstellung, nicht das Bild, sondern seine Voraussetzung. Indem Alois Lichtsteiner so Darstellung und Bild dekonstruiert, macht er in seinem Schaffen das Sehen selbst, die Wahrnehmung erfahrbar. Das Dargestellte führt zurück zur Idee, nicht ein einzelnes Bild, nicht ein einzelner Berg sind zu sehen, sondern jedes Bild, jeder Berg. Es ist nicht die Wiederholung von Wirklichkeit, es ist eine neue, eine geschaffene Wirklichkeit, und es wird erkennbar, woraus diese neue Wirklichkeit ist, die jenseits des Bildes, jenseits der Malerei nicht existiert: aus Farbe. In ihr realisiert sich die Idee, die der Künstler zum Bild formen will – um erlebbar zu machen, wie wir durch unser Sehen, unsere Wahrnehmung uns die Welt erschliessen, wie wir in ihr stehen.

Alois Lichtsteiner, ohne Titel, aus der Reihe «Berg», Öl auf Papier, je 25 x 36 cm, 388 x 305 cm, 98-teilig.

Weiss als Summe aller Farben

Durch handwerkliche Arbeit ist Alois Lichtsteiner zur Malerei gekommen. Sich mit der Farbe als einem Material auseinanderzusetzen, das sich auf Stühle aufbringen, das sich auf Schwarz und Weiss reduzieren und woraus sich Rindenmuster von Birkenstämmen, Formationen von Fels und Schnee konstruieren lassen, ist seit je Inhalt und Ziel der Kunst von Alois Lichtsteiner. Weiss ist ihm die Summe aller Farben. Die Farbigkeit tritt in jüngeren Arbeiten wieder vermehrt in den Vordergrund, nachdem er sie in Holzdrucken als Akzent erst zurückhaltend einsetzte, ohne das vorherrschende Helldunkel aufzugeben und ohne die Konstruktion zugunsten von Realitätsnähe aufzugeben. Ganz im Gegenteil unterstreicht der bewusste Einsatz der Farbe, der sich oft gegen die Vortäuschung von Natürlichkeit richtet, dass es sich beim Dargestellten um Ideen handelt. 

Weil es nicht Abbilder vorgefundener Realitäten sind, sondern im Material der Farbe sich manifestierende Ideen, fordern die Bilder von Alois Lichtsteiner von der Betrachterin und vom Betrachter mehr als nur ein passives Sehen. Es gilt, ihre Aufforderung und ihren Anspruch einzulösen, sie als Kunstwerke zu realisieren, sich von ihnen ansprechen zu lassen und die Empfindungen, die der Künstler in sie eingebracht, die Idee, aus der er sie geschaffen hat, zu vergegenwärtigen.

Alois Lichtsteiner, o.T. (Berg), Öl auf Papier, 27.3 x 20.3 cm.

Erinnerungen und Gefühle

Das Bild, das vorgibt, einen tief verschneiten Anstieg zu einer sanft gerundeten Hügelkuppe, den Blick auf einen von schroffen Felsen durchsetzten Gipfelkamm zu zeigen, wird so zu einem symbolistischen, zu einem Seelenbild, das eine innere Landschaft zeigt und Erinnerungen wecken kann. Erlebnisse und Gefühle aus der Kindheit mögen auftauchen, verbinden sich mit gegenwärtigen Gedanken und Erfahrungen. Die Weihnachtstage, die Zeit zwischen den Jahren können im Guten wie im Schlechten emotionale Ausnahmezustände mit sich bringen, den Wunsch nach Distanznahme und Selbstvergewisserung oder auch nach Gemeinsamkeit und Verbundensein wecken. Aus der Begegnung und Auseinandersetzung mit Kunstwerken wie sie Alois Lichtsteiner geschaffen hat, kann jene Freiheit als Ahnung oder Empfinden aufscheinen, die der Künstler bei seiner Arbeit erfahren hat: über das Gegebene hinauszukommen, Verborgenem nachzufragen, Ideen so und anders zu realisieren und den Sichtwechsel zu wagen. 

Urs Bugmann

Foto zvg

Alois Lichtsteiner

1950 in Ohmstal geboren. Ausbildung zum Lehrer, Arbeit in verschiedenen handwerklichen Berufen. Reiste 1974 ein Jahr lang durch Nord- und Zentralafrika. Studierte an der Kunstgewerbeschule in Zürich, 1978 Abschluss und erste Einzelausstellung in der Berner Galerie, kuratiert von Johannes Gachnang in Bern. 1989/90 Stipendium des Kantons Bern, Aufenthalt in Paris. 1994 bis 1998 Gastdozent an der École Cantonale des Beaux-Arts in Sion/Sierre, Ausstellungen in der Schweiz und im Ausland. Werke in zahlreichen Sammlungen, seit Neuestem auch im Museum of Modern Art MOMA in New York. Seit 1990 lebt und arbeitet Alois Lichtsteiner in Murten und in Paris. Er signiert seine Werke mit OHMSTAL.

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