«Lothar» ist passé, frischer Wind garantiert

Zerstörte Wälder abrasierte Dächer, weder Strom noch Telefon – am Stephanstag vor 20 Jahren hinterliess der orkanartige Sturm Lothar eine Spur der Verwüstung. Zum Beispiel auf der Liegenschaft Hinteregglen der Familie Burkard. Ein Rückblick in drei Akten. Oder: die etwas andere Weihnachtsgeschichte.

Silvia und Martin Burkard vor ihrer Scheune, die sie im Frühjahr 2000 errichtet haben. Foto Norbert Bossart
Norbert Bossart

Sonntag, 26. Dezember 1999: «Lothar» wütet. Ein Wintersturm, wie ihn unsere Region seit Menschengedenken noch nie erlebt hat. Er hinterlässt ein Bild der Verwüstung. «In Zell hat der Orkan die Strommasten wie Zündhölzer geknickt» – «Meinem Hergiswiler Schwiegervater hat der Sturm eine riesige Waldfläche wie eine Lawine niedergewalzt» – «Die Musikgesellschaft Ufhusen konnte nicht konzertieren, da zu viele Bläser in der Feuerwehr im Dauereinsatz stehen» – «Menzberg ist von der Umwelt abgeschnitten» – «Tausende von Wald- und Obstbäumen liegen allein in der Gemeinde Willisau-Land am Boden»: Beinahe im Minutentakt erreichen am Montag nach dem Orkan Schadensmeldungen die WB-Redaktion. Das Ausmass der Katastrophe lässt sich vorerst nur erahnen. Zu viele Ortskorrespondenten sind telefonisch nicht erreichbar, zu viele Strassen durch umgeblasene Bäume versperrt.

 

Der erste Augenschein

Dienstag, 28. Dezember 1999. Erst im Verlaufe dieses Dienstagmorgens lassen sich abgelegene Höfe und Weiler allmählich wieder erreichen. 48 Stunden nach der Katastrophe kann ich zusammen mit Redaktionskollege Stefan Calivers in eines der gröbsten Schadensgebiete aufbrechen. Durch dichtes Schneegestöber und bei bissiger Kälte fahren wir Richtung Schülen, Willisau-Land. Die Ränder des Weges sind von abgezwickten, weggeräumten Tannen gesäumt. Extrem sind die Schreckensbilder und schauerlich die Augenzeugenberichte vor Ort. Wir reden mit niedergeschlagenen, müden Bauernfamilien. Sie berichten von Ziegel, um Ziegel, die der Orkan abgetragen hat. Von Dachrinnen und Balken, die wie Geschosse herumflogen. Von meterdicken, jahrzehntealten Bäumen, die «Lothar» entwurzelte. Leidgeprüfte erzählen vom Stromausfall, fehlenden Notstromaggregaten und Kühen, die lautstark muhen. Denn weder die Bauern noch die Tiere sind sich das Handmelken noch gewohnt. Immer wieder ist derselbe Satz zu hören: «Wir haben um unser Leben gebangt». Auch auf Hinteregglen, auf dem Hof der Familie Burkard.

48 Stunden nach "Lothar": Silvia, Martin, Lisbeth und Anton Burkard mit Hofhund Sämi. Foto WB-Archiv/Stadtarchiv

«Es war unglaublich. Ich hatte Todesangst», sagt die 71-jährige Lisbeth Burkard bei unserem Besuch. Familienmitglieder berichten am Küchentisch von den Schreckensstunden: Bereits in den Morgenstunden ist Sämi, der Berner Sennenhund, unruhig wie nie zuvor auf dem Hof herumgeschlichen. «Als ob er spürte, was uns erwartet.» Dann ist er gekommen, der Orkan. Kurz vor Elf am Morgen. «Himmel Herrgott und wie», berichtet Anton Burkard, der Senior. Seine Frau Lisbeth, die «s' Chute wie de Tüfu förchtet», wollte einmal mehr ihren Notraum beziehen, den sicheren Keller. Doch vorerst versammeln sich drei Generationen am Küchentisch. Lisbeth entzündet eine gesegnete Kerze aus dem Wallfahrtsort Luthern Bad. Angsterfüllte Blicke schweifen nach draussen. Beobachten, wie «Lothar» das Scheunendach wegrasiert. Sohn Martin berichtet von einem Detail, das die gewaltige Wucht des Wirbelsturms erahnen lässt. «Eternit-Platten des nahen Schopfes durchschlugen wie Granatensplitter selbst 24 Millimeter dicke Holzwände.» Seine Frau Silvia ergänzt: «Solchen Naturgewalten ist der Mensch hilflos ausgeliefert.» Strom und Heizung fallen am Stephanstag aus. Es wird kälter und kälter im Haus. Im Stall stehen tropfnasse Kühe und Gustis innert Kürze bis zu zehn Zentimeter im Wasser. Als der Orkan abflaut, wird mit der spontanen Hilfe von Nachbarn und Brüdern mit Blachen und Wellblech ein Notdach errichtet. Während die Frauen in dicken Jacken auf dem Camping-Gaskocher Rauchwürste wärmen, melkt der Bauer zu später Stunde mit dem Notstromag-gregat. Improvisieren ist angesagt. Stundenlang, tagelang.

Die zerstörte Scheune Hinteregglen. Foto WB-Archiv/Stadtarchiv

Der zweite Augenschein

26. Dezember 2000: ein Jahr nach «Lothar», gleicher Standort. Reporter Bossart fotografiert die Familie Burkard vor der neu erbauten Scheune. Freudige Gesichter im Fokus, mit Stolz in den Augen. «Der Sturm war für uns Ende und Anfang zugleich», sagt Martin Burkard. Der 42-Jährige arbeitet als Chauffeur, «damit sich meine Frau das Bauern leisten kann». Das Ausmass des Schadens habe vor einem Jahr den Ausschlag für eine neue Scheune gegeben. Der Neubau sei «eine Herkulesaufgabe» gewesen. Vor allem die Finanzierung. «Keinen Rappen habe ich von der landwirtschaftlichen Kreditkasse erhalten», berichtet Martin und flucht vor sich hin. «Luzern sagte, der Bau sei überrissen und es gebe in der Umgebung genug Höfe, die problemlos unsere acht Hektaren bewirtschaften könnten.» Auch die Pauschale der Gebäudeversicherung sei immer kleiner geworden. Warum es trotzdem mit dem Scheunenbau klappte? Der vierfache Familienvater löste seine Pensionskassen-Gelder heraus. Und: Martin Burkard durfte auf die tatkräftige Hilfe seiner Brüder, Schwäger, Freunde und Nachbarn zählen. «Ohne sie hätten wir es nie, niemals geschafft.» Die Helfer schweissen, mauern, schrauben. Unglaublich, in welch rasantem Tempo die Scheune errichtet wird. 25. März: Abriss des Altbaus. 11. April: kleine Aufrichte. Anfang Mai: Die Kühe kehren auf den Hof zurück. 10. Mai: Das erste Heu wird eingefahren. «Wir haben fast Tag und Nacht gearbeitet. Freizeit oder Ferien waren Fremdwörter», sagt Martin Burkard. Seine Frau Silvia ergänzt: «Jetzt haben wir kein Flickwerk, sondern einen neuen Zweckbau, der auch der nächsten Generation dient.» Grossvater Anton, der gern dichtet, bilanziert: «Manchmal ist es so im Leben, Pech und Unglück wird zum Segen.»

 

Der dritte Augenschein

Dezember 2019, zwei Jahrzehnte nach «Lothar»: dritter Besuch des WB-Journalisten zum gleichen Thema in der gleichen Hofküche. Silvia und Martin Burkard, inzwischen 57 und 60, blättern im Fotoalbum, begutachten Bilder von der zerstörten Scheune und überfliegen Zeitungsbeiträge von anno dazumal. Sie halten nur kurz Rückschau auf das «Lothar»-Debakel. Von Wehklagen keine Spur. Weit ausführlicher erläutert das Paar die folgenden Farbaufnahmen, welche die Errichtung der Neubauten dokumentiert. «Wir blicken lieber vorwärts als zurück», sagt der Bauer mit Nachdruck. Seine Frau nickt. «Lothar» und die Angst vor neuen Wirbelstürmen seien längst passé. Die Liegenschaft, so sind Burkards überzeugt, trotze jedem Wind. «Dank der neuen Firstausrichtung sind Angriffsflächen für die Winde kleiner.» Zudem haben die Handwerker dreimal mehr Schrauben verwendet als in der Regel für einen Dachaufbau dieser Grösse nötig wären. «Lothar», so ist der Hinteregglen-Bauer überzeugt, habe das Lebenswerk des 2001 verstorbenen Vaters zwar weggefegt, aber gleichzeitig seinem kleinen Landwirtschaftsbetrieb «enorm Aufwind» gegeben. «Das Ende war der Anfang», wiederholt Silvia Burkard eine WB-Schlagzeile aus den Neunzigerjahren. Dank dem Scheunenneubau konnte Martin Burkard im Jahr 2005 zusätzlich die 12-Hektaren-Liegenschaft «Schnägg» in der Nachbarschaft pachten, danach seinen Nebenerwerb als Chauffeur aufgeben und ganz auf die Landwirtschaft setzen. «Mein Lebenstraum wurde wahr», hält er fest. Der Neubau einer Schweinescheune folgte. 

Derzeit gehören zum Hof Hinteregglen gegen 50 Stück Vieh, die für Industriemilch sorgen, und rund 100 Mutterschweine, die zum Abferkeln den Hof zwischenzeitlich verlassen. «Wir konnten seit ‹Lothar› mit Wille und Einsatz eine Existenz aufbauen, mit der eine Bauernfamilie über die Runden kommt», sagt Silvia Burkard. Die nächste Generation steht bereits in den Startlöchern. Ein Hausneubau «mit wetterfesten Wänden und sturmfestem Dach» ist angedacht. Der jüngste Sohn Ueli, heute 25, soll dereinst den Hof übernehmen. Sein Vater Martin Burkard sagt: «Gott behüte uns vor schweren Orkanen. Ueli wird für genug frischen Wind auf Hinteregglen sorgen.»

Norbert Bossart

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • HTML - Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Web page addresses and email addresses turn into links automatically.