Ein Besuch bei Ibrahim, Ali und Hamid

Seit März ist die Notunterkunft Bisangmatte in Betrieb. Der WB erhielt Einblick in den Alltag der Asyl­suchenden. Ein Augenschein vor Ort.

Monika Wüest

von Benyamin Khan

 

Morgenrapport zwischen Tür und Angel. «Ist was vorgefallen?», fragt Sereina Steiner (25). Als erste Caritas-Mitarbeiterin trifft sie gegen acht ein. Ein Asylsuchender sei nach 22 Uhr, also zu spät, zurückgekehrt. «Ansonsten nichts Besonderes», berichten die zwei Männer vom Zivilschutz. In einem Container führt die Zivilschutzorganisation Napf rund um die Uhr die Eingangskontrolle durch. In Schichten à 12 Stunden. Im Innern des Containers läuft ein Fernseher.

In der Willisauer Zivilschutzanlage Bisangmatte betreibt die Caritas im Auftrag des Kantons seit März eine Notunterkunft für asylsuchende Männer. Es stehen 60 Betten bereit. Davon sind 44 belegt.

Der Grossteil der Asylsuchenden kommt aus Syrien, Afghanistan, Eritrea und Sri Lanka. «Die Belegungszahl ist nicht konstant», sagt Steiner. Die Anzahl der Asylgesuche schwankt mit den Jahreszeiten. Im Winter nehmen die Bewegungen der Menschen ab. Im Sommer, wenn das Wetter im Mittelmeer sanfter wird, stechen die Boote wieder in See. Letzte Woche seien «auf einmal» zehn Eritreer gekommen.

 

Ibrahim, 19, Schüler

«Kennst du den Film Black Hawk Down? Von da komm ich: Somalia.» Ibrahim lacht. Seine unteren Schneidezähne stehen schief. Er kommt aus dem Süden des vom Bürgerkrieg gebeutelten Landes: «Aus Gedo.» Ibrahim lacht erneut. In Somali bedeute «Gedo» schlicht Hochebene, «nicht Ghetto». Ibrahim erzählt von seiner Flucht nach Europa: Sudan, Sahara, Libyen, Mittelmeer. Er erzählt von den drei Tagen auf der rauen See im Dezember, den 120 Menschen auf dem Fischkutter, der Rettung in Seenot durch die italienische Marine. Er berichtet vom ersten Schnee in Sizilien. Die Bewohner der Notunterkunft bezeichnet Ibrahim als «meine Brüder». Schliesslich haben sie alle ihre Heimat verlassen, teilen nun dasselbe Heim. «Hier höre ich morgens Vögel, in Somalia waren es ‹gunshots›, Gewehrsalven.»

 

Ein Bau für den Krieg

Caritas-Mitarbeiterin Sereina Steiner steigt die Stufen hinab und öffnet die metallene Eingangstür. Eintauchen in eine Welt ohne Tageslicht. Ein Korridor führt zum Betreuerbüro und weiter ins Innere der Anlage. Im Büro startet sie den Computer, sortiert Post. Danach geht sie auf einen ersten Kontrollgang.

Die Räumlichkeiten sind noch menschenleer. Im Zentrum befindet sich ein offener Aufenthalts- und Essraum. Mit Sofaecke, Tischen und Stühlen. Eine Küche mit zwei Kochherden. Vier Duschen und lange Waschtröge. Zur Linken geht es in die fünf Schlafräume, welche grob nach Nationen unterteilt sind. Nur einer davon hat eine Tür.Geschlafen wird auf zwei- oder dreistöckigen Etagenbetten. Jeder hat ein zweites Bett zur Verfügung, es dient als Schrank. Dünne Matratzen, stickige Luft oder ein Toilettenbesuch, der weckt – es ist schwierig, die Nacht durchzuschlafen.

Die fremden Räume heimischer gemacht: Mit eigenen Porträts, Familienbildern aus Aleppo, Kabul und Asmara. Und doch sind da diese Schleusen, diese Panzertüren und dieser Beton. Eine Unterkunft gebaut für den Krieg.

 

Ali, 33, Anwalt

Er stopft Zigaretten. Die langen, lockigen Haare hangen ihm ins Gesicht. Aufgewachsen ist Ali in der Altstadt von Damaskus als Sohn eines Kunstschaffenden. Nach dem Jurastudium arbeitete er sechs Jahre in Saudi Arabien als Brand Manager für ein internationales Textilunternehmen. Er machte sich für mehr Lohngerechtigkeit stark, verlor danach Arbeit und Aufenthaltsbewilligung. Er zog mit weiteren Mitangestellten vor Gericht und verlor den Prozess. Nach Syrien bringt ihn nichts zurück. Als Reservist würde er in den Krieg geschickt: «Ich will niemanden töten und nicht getötet werden.» In der Notunterkunft hat er sich mit seinen syrischen Brüdern organisiert. Ali kocht, Mahmud backt Brot und Yasin wäscht ab. Heute Abend wird Ali sein Leibgericht auftischen. «Fleisch und Bachblech», sagt er in gebrochenem Deutsch. Die Zubereitung lernte er via Skype, von seiner Schwester.

 

Drei Franken pro Stunde

Ein Telefonanruf kurz nach neun vom Sportzentrum Willisau. Es gibt Arbeit für fünf Asylsuchende. Unkraut jäten auf dem Fussballplatz. Sereina Steiner sucht die Schlafräume auf und weckt einzelne Männer. Diese schlurfen verschlafen aus den Zimmern, waschen ihr Gesicht am langen Becken. Zwei Syrer sitzen bald bei Schwarztee und kaltem Fladenbrot, während drei Eritreer noch Pasta wärmen. Gegen halb zehn steht die gemischte Gruppe bereit, in Jogginghosen und kniehohen Gummistiefeln. Draussen nieselt es.

Michael Untersee (41), Leiter der Notunterkunft, ist inzwischen eingetroffen. Er erklärt, welche Arbeit die Asylsuchenden verrichten können. In Willisau habe die Caritas neben den internen Putzarbeiten externe Arbeitseinsätze in der Gemeinde organisiert. Die Männer seien «sehr willig» zu arbeiten, verdienten sie doch zusätzliche drei Franken pro Stunde. Geld, das die Bewohner der Notunterkunft gut gebrauchen können.

Im Kanton Luzern bekommt ein erwachsener Asylsuchender 10.50 Franken täglich. Das muss reichen für alles: Essen, Kleider, öffentlicher Verkehr, Natel und Zigaretten. Vergütet bekommen sie einzig die Fahrkosten zu offiziellen Terminen und Arztbesuchen. Trotz der knappen Mittel gäbe es Bewohner, die «fast das ganze Sozialgeld nach Hause schicken», berichtet Sereina Steiner.

Für die Arbeit, welche die Caritas organisiert, gilt: Asylsuchenden, die mehr als 2400 Franken im Jahr verdienen, wird der «entsprechende Teil vom Sozialgeld gestrichen». Reich wird niemand. Entgegen der verbreiteten Meinung ist es Asylsuchenden nicht verboten regulär zu arbeiten. Nach drei Monaten in der Schweiz können sie mit Erlaubnis des Migrationsamtes eine Stelle antreten, falls diese zuvor öffentlich ausgeschrieben wurde.

 

Khorshid, geschätzt 25, Dolmetscher

«Meine Geburtsurkunde ging im Bürgerkrieg verloren.» Die Behörden mussten Khorshids Alter schätzen: Jahrgang 1990. Khorshid stammt aus Ghazni, Afghanistan. Er spricht Englisch mit einem subtilen amerikanischen Akzent. In sich gesunken, die Beine übereinander geschlagen, sitzt er auf dem Stuhl. Er argumentiert einfach und klar. In Afghanistan war er Dolmetscher für das US-Militär. Er übersetzte von Paschtu und Farsi ins Englische. Eine gute Stelle. Immer und immer wieder fragte er religiöse Führer: Warum für Gott töten? In seiner Heimat war er nicht frei zu glauben, was er wollte. Heute ist er Atheist und hofft, in Europa Freiheit und Frieden zu finden. Manchmal bezweifelt Khorshid, ob es korrekt war, in die Schweiz zu fliehen: «Ist es richtig, ohne anzuklopfen in ein Haus einzutreten, sich an den Tisch zu setzen und zu essen?» Die Antwort gibt er gleich selbst: «Ich hatte keine andere Wahl.»

 

Selbstverantwortung

«In Willisau haben wir keine renitenten oder verhaltensauffälligen Personen», berichtet Unterkunftsleiter Michael Untersee. Die Bewohner werden laufend in Wohnungen umquartiert. In der Notunterkunft ist die Begleitung gering. Maximal zwei Betreuer für die maximal 60 Bewohner. «Das fördert die Selbstverantwortung», sagt Untersee. «Die Notunterkunft ist ein Übungsfeld für das Leben danach.» Bisher habe es keine gravierenden Zwischenfälle gegeben. In der Anfangsphase hätten sich Anwohner beschwert, es werde auf dem Vorplatz zu laut telefoniert. Untersee schmunzelt: «Zu wissen, wie laut telefoniert werden darf, gehört auch zur Integration.»

 

Hamid, 31, Mikrobiologe

«Ich habe in Syrien mehrere Jahre Mikrobiologie studiert», sagt Hamid. Soeben hat er geduscht und sich rasiert. Die oberen zwei Knöpfe seines rosa Hemdes trägt er offen. Hamid hat dunkle Schattierungen um die Augen. In einfachem Englisch erzählt er von seinem Fachgebiet, der künstlichen Befruchtung. Als Forscher hatte er das nötige Geld, um dem Krieg in Syrien den Rücken zu kehren. Sein Ziel: «Vielleicht dereinst wieder als Mikrobiologe zu arbeiten.»

An diesem Abend sitzt Hamid mit einigen Bewohnern draussen vor der Notunterkunft. Hamid schneidet Kuchen, schenkt Eistee aus. Seine Kollegen singen «sana helwah ya gameel». Die arabische Fassung von Happy Birth­day klingt in die Nacht hinaus.

Dann erreicht Hamid ein besonderer Glückwunsch zum 31. Geburtstag aus seiner Heimat. Am Telefon ist seine Mutter. Sie weint, im fernen Rakka, der Hauptstadt des Islamischen Staates.

 

Anmerkung der Redaktion: sämtliche Namen wurden geändert.

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