Nachruf

25. Februar 2021

Josef Bucher-Häfliger

Bucher-Häfliger Josef
Grossdietwil

Was greift man aus einem Lebenslauf heraus, der beinahe ein Jahrhundert umfasst? Und der von einem Mann mit einem überaus aktiven Leben handelt? So vieles gäbe es zu erwähnen und zu erzählen. Zum Glück – und bezeichnend für ihn – hat Vati da selber vorausgedacht. Knapp und faktenorientiert solle der Lebenslauf sein, so sein schriftlich festgelegter Wunsch. Also gut.

Josef Bucher-Häfliger kam am 9. April 1925 im Rothenhaus in Grossdietwil zur Welt. Es war der Karsamstag. Weil der neugeborene Knabe schwächlich wirkte, liessen ihn die Eltern Mathilde und Franz Josef Bucher-Bürli schon tags darauf, an Ostern, taufen. Sicher war sicher! Der Vater war Sekundarlehrer in Grossdietwil, die Mutter hatte als Hutmacherin gearbeitet. Zusammen mit den fünf Geschwistern Franz, Hans, Maria, Pia und Thildy erlebte Josef eine schöne Kindheit und Jugend, trotz nicht einfacher Krisenjahre vor dem Zweiten Weltkrieg. Viel Zeit verbrachte er auf dem Bauernbetrieb seines Göttis Josef Bürli-Müller und bei den Ernis auf dem Hof Bellevue in Eppenwil. Während den Schulferien durfte er dort Vieh hüten und mit dem Pferd in die Käserei. «Unvergessliche Tage!», schrieb er im Rückblick.

Im Winter 1939 – der Krieg war ausgebrochen – suchte die Maul- und Klauenseuche die Schweizer Ställe heim. Zehn Wochen lang war in Dietu deswegen keine Schule. Vati erinnerte sich letzten Frühling daran, als die Corona-Pandemie das Land lahmlegte. Damals, als Oberstufenschüler, erhielt er während des Schulausfalls Privat­unterricht von seinem Vater, damit er die Aufnahmeprüfung ins Lehrerseminar Hitzkirch bestand. Mit Erfolg. 1945 erlangte er das Lehrerpatent, daraufhin folgten vier Studiensemester zum Sekundarlehrer an den Universitäten Fribourg und Lausanne. Das war für ihn «ein herrlicher Lebensabschnitt», wie er später festhielt. Nicht nur sein Wissensdurst wurde gestillt, auch Freundschaften fürs Leben entstanden. Danach nahm er seine berufliche Tätigkeit auf. Er unterrichtete drei Jahre an der Primarschule in Alberswil und im Lütenberg (Willisau-Land), anschliess­end elf Jahre an der Sekundarschule in Hergiswil bei Willisau. Die dortigen Schülerinnen und Schüler seien sehr fleissig gewesen, wusste er zu loben.

Neben der Arbeit gab es auch noch die Liebe. 1951 heirateten Josef Bucher und Marie Häfliger aus der Lisch in Grossdietwil. Die beiden waren sich beim Tanz während der Fasnacht nähergekommen. Sie blieben ihren Lebtag zusammen und gründeten eine grosse Familie mit den sieben Kindern Urs, Peter, Helen, Thomas, Markus, Esther und Guido. Sepp und Marie ergänzten sich perfekt. Sie steuerte dem Wert pflichtbewusster Arbeit, den beide uns vermittelten, oft noch eine willkommene intuitive und humorvolle Komponente bei. Vati selber schreibt: «Sie verkörperte in der Familie die Ruhe und Zufriedenheit». Ihre Gedanken seien zwar nicht wie seine an Versammlungen zu hören gewesen, dafür zu Hause. Er fügte an: «Das war wie Gold in einer heimlichen Truhe». Anfang der 1960er-Jahre war die Familie nach Grossdietwil zurückgekehrt, wo Sepp die Sekundarlehrer-Stelle seines Vaters übernahm. Auch sein Grossvater war schon Lehrer gewesen. Und die Berufstradition setzte sich fort: Heute zählen wir in der Familie bereits die fünfte Lehrerinnen- und Lehrergeneration. Josef Bucher investierte viel Energie in seinen Beruf und engagierte sich über die Unterrichtstätigkeit hinaus als Bezirksinspektor und in diversen Kommissionen. Obwohl kein Natur-, sondern ein Geisteswissenschaftler, half er etwa bei der Herausgabe eines neuen Lehrmittels in Mathematik mit. Eine gute Schulbildung war ihm wichtig, aber immer wieder betonte er auch: «Schultüchtigkeit ist nicht Lebenstüchtigkeit».  

Typisch Vati! Seine Interessen waren äusserst vielfältig. In Freiwilligenarbeit für die Gemeinschaft gründete er den Bildungszirkel in der Talschaft mit. Der Zirkel organisierte unzählige Vorträge, Ausstellungen, Konzerte, Wanderungen. In unserem 1962 erbauten Elternhaus im Felsberg war Vatis kulturelle Affinität ebenfalls sichtbar. Kunst hing an den Wänden, er spielte Geige und Cello. Auch im Männerchor sang er mit, laut ihm war das «Erholung im geselligen Kreis». Natürlich wurden dabei Informationen aus dem Dorfleben ausgetauscht. Informationen waren wichtig im Leben unseres Vaters. Als Nachrichtenoffizier mit fast 1100 Diensttagen erwarb er viel Praxis darin, Dinge kurz und klar auszudrücken. Wir Kinder spürten das mitunter sehr direkt. Als Vati von einem der zahlreichen Militärdienste zurückkam, überraschte ihn Thömi mit der frohen Botschaft, dass wir jetzt einen Kaninchenstall hätten. Vatis Antwort: dieser müsse innerhalb von 24 Stunden wieder weg. Bei uns in der Familie war es nie langweilig! Zwölf Jahre lang amteten unsere Eltern ausserdem als Kassiere der Raiffeisenkasse Grossdietwil. Die Öffnungszeiten im Felsberg waren unkonventionell. Die Leute kamen auch am Sonntag nach dem Kirchgang vorbei. Dann drehte Mueti den Kochherd zurück und waltete ihres Amtes. Das merkte man dem hervorragenden Essen aber nicht an.

Im Juli 1990 wurde unser Vater pensioniert. In der neuen Lebensphase widmete er sich mit grosser Hingabe und Sorgfalt seinem Hobby, der Lokalgeschichte. Zur Erforschung verschiedener Themen begab er sich regelmässig ins Staatsarchiv Luzern, dies bis ins hohe Alter. Er schrieb über die Entwicklung Grossdietwils und des Luzerner Hinterlands, er recherchierte die Geschichten von Häusern, Höfen, Strassen. 2001 verlieh ihm die Gemeinde Grossdietwil für seine anschaulichen historischen Publikationen das Ehrenbürgerrecht. Das freute ihn sehr. Seine letzte Dokumentation mit dem Titel «Von der Saat zum Brot» verfasste er nur wenige Wochen vor seinem Tod. Er sei «ein Weiser des Rottal-Volkes»: Das sagte augenzwinkernd sein Freund, der langjährige Dietler Dorfarzt Jost Küng, an der öffentlichen Feier zum 90. Geburtstag. Doch Josef Bucher blickte nie nur zurück. Er lebte in der Gegenwart und blieb offen für Neues. So eignete er sich als «Digital Senior» früh zeitgemässe Fähigkeiten an. Er schrieb seine Chroniken am Computer und verschickte die Artikel, die er als Ortskorrespondent für den «Willisauer Bote» schrieb, per E-Mail. Getippt hat er sie aber immer noch im Adlersystem.

Marie und Sepp sind im Rentenalter viel gereist, von Locarno und dem Val Müstair über Frankreich bis nach Tokio. Als Mueti an Demenz erkrankte, pflegte er sie jahrelang zu Hause, eine grosse Aufgabe, die er ganz selbstverständlich übernahm, bis es nicht mehr ging. 2013 verstarb seine liebe Marie im Pflegeheim. Vati blieb allein und selbstständig im Haus im Felsberg wohnen, integriert ins Dorf, unterstützt von Nachbarn und uns Kindern, besonders von seiner Tochter Esthi. Er las viel, zu allen möglichen Themen, in Zeitungen und in Büchern über Geschichte, Politik, Kunst, Architektur, Mathematik, Physik. Die Liste ginge noch weiter. Er verfügte über enorme Kenntnisse. Im Gespräch mit ihm – gerne bei einem guten Glas Wein – erfuhren wir Kinder manchmal sogar noch etwas über unseren eigenen Beruf. Von seiner Lebenserfahrung profitierten wir sowieso. Eine Einschätzung oder ein Ratschlag von ihm hatten Gewicht. Er blieb eine Instanz bis an sein Lebens­ende.

Lange Zeit stand im Schulzimmer des Bucher-Lehrers ein Philodendron, der sich jährlich streckte. Davon schnitt der Lehrer jeweils in der letzten Schulstunde einige Zweige ab und verteilte sie an die Schüler. Noch heute sollen diese Zweige als grosse Zimmerpflanzen in einigen Stuben gedeihen. Als Lehrer und Erzieher, als Dietler mit unermüdlichem Wirken, als Vater, fünffacher Grossvater und fünffacher Urgrossvater bleibt Josef Bucher in markanter Erinnerung. Er war uns Kindern in vielem ein Vorbild, mit seinem Lebensmut, seinem Optimismus, seiner Fähigkeit, sich nach Schicksalsschlägen aufzurichten – und zuletzt auch noch im Sterben, das er mit grosser Würde und ohne Aufheben annahm. In seinem Zimmer im «Violino» in Zell hörte er in den letzten Lebenstagen viel klassische Musik. Er verstarb nur wenige Stunden, nachdem die Wiener Philharmoniker im Radio zum neuen Jahr aufgespielt hatten.